78. Sitzung des UA. im Deutschen Bundestag

Während der 78. Sitzung des Untersuchungsausschusses, die am 30. Januar 2020 im Deutschen Bundestag stattfand, wurden für den öffentlichen Teil der Anhörung drei Zeugen geladen. Darunter die ehemalige Leiterin des Berliner Staatsschutzdezernats (LKA 5), Jutta Porzucek, deren damaliger Stellvertreter Youssef El-Saghir am 19. Dezember 2019 vor den Untersuchungsausschuss geladen worden war. Während der Anhörung wird die Zeugin befragt zu den Auffälligkeiten bei dem auf den Terroranschlag folgenden polizeilichen Erstzugriff, bei dem zur Beweisaufnahme Spuren am Tatort sichergestellt werden sollten.

Fragen wirft dabei vor allem die erhebliche Verzögerung auf, mit der das Führerhaus des LKW untersucht worden war.

Fragen wirft dabei vor allem die erhebliche Verzögerung auf, mit der das Führerhaus des LKW untersucht worden war. So wurde die auf den Namen Ahmed al-Masri ausgestellte Duldungsbescheinigung des Attentäters erst rund siebzehn Stunden nach dem Terroranschlag in der Führerkabine des LKW aufgefunden. Der Name Ahmed al-Masri war eine der ersten Alias-Identitäten Amris, die dem späteren Attentäter durch das Dezernat 6 des Berliner Landeskriminalamts bereits seit dem 6.12.2015 hatte zugeordnet werden können.

Auch der Umstand, dass die Fahndungssofortmaßnahmen nach dem Täter für mehrere Stunden ausgesetzt wurden, führte dazu, dass der Attentäter nach der Tat ungehindert seinen viertägigen Fluchtweg bis nach Mailand aufnehmen konnte. Dort wurde er in den frühen Morgenstunden des 23. Dezember 2016 im Stadtteil Sesto San Giovanni erschossen. Die offiziellen Begründungen, mit denen man diese weiteren ermittlungstechnischen Auffälligkeiten im Fall Terroranschlag Breitscheidplatz zu erklären versucht, sind ebenso unterschiedlich wie unglaubhaft[1].

Nach der Verzögerung der Durchsuchung der Führerkabine gefragt, weist die Zeugin Porzucek darauf hin, dass man den LKW zunächst auf Sprengstoff habe kontrollieren müssen. Daraufhin zählt der Vorsitzende Gröhler einige der zahlreichen Maßnahmen auf, mit denen das Führerhaus direkt nach dem Anschlag betreten und auch untersucht worden war –unter anderem war der polnische Speditionsfahrer kurz nach der Tat aus der Führerkabine des LKW geborgen worden. Die Gefahr von im LKW platziertem Sprengstoff sei dabei nicht bedacht worden. Zu diesem Vorhalt schweigt sich die Zeugin aus.

Bei ihrer Beschreibung der polizeilichen Aufarbeitung des Terroranschlags erwähnt Porzucek die Anwesenheit eines Staatssekretärs, der in ihrem Arbeitszimmer gesessen und ihr „über die Schulter geschaut“ habe und auch bei den darauffolgenden polizeiinternen Besprechungen mit dabei gewesen sei. Dabei habe es sich um den damaligen Staatssekretär der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport Christian Gaebler gehandelt.[2]

Warum der Berliner Staatsschutz die tatsächliche Gefährlichkeit des späteren Attentäters verkannt habe, kann die Zeugin nicht erklären, man habe das von Amri ausgehende Risiko für die staatliche Sicherheit nicht als hoch eingeschätzt, die Gefahrenlage falsch bewertet. Bei der Aufarbeitung des Berliner Terroranschlags und den im Vorfeld geführten Ermittlungen seien allerdings Dokumente aufgefallen, mit denen die Gefahrenlage im Jahr 2016 neu bewertet hätte werden müssen. Es handelte sich dabei um die inzwischen als „Marokko Hinweise“ bekannt gewordenen Informationen des marokkanischen Inlandsgeheimdienstes Direction Générale de la Surveillance du Térritoire (DGST). Durch die in verschiedene Drittstaaten reichende Kontakte des späteren Terroristen Anis Amri war der DGST auf den sich in Deutschland aufhaltenden Tunesier aufmerksam geworden und bewertete dessen Gefährlichkeit infolge abgehörter Gespräche als hoch. Über diese Erkenntnis informierte der DGST umgehend den deutschen Auslandsnachrichtendienst (BND) und das Bundeskriminalamt (BKA). Aus bislang ungeklärten Gründen leiteten die beiden Behörden die Hinweise jedoch nicht an die verantwortlichen Stellen auf Landesebene weiter. Während einer Sitzungspause teilt mir der Abgeordnete Konstantin von Notz auf mein Nachfragen mit, dass die Weiterreichung der marokkanischen Hinweise der sicherheitsbehördlichen Handhabung des späteren Terroristen eine völlig neue Wendung gegeben hätte.

Während der regelmäßigen Sitzungen der Koordinierungsstelle des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums, kurz GTAZ, in denen vierzig Sicherheitsbehörden, darunter BKA und BND und auch das Berliner Landeskriminalamt vertreten sind, und in denen Anis Amri während insgesamt elf Sitzungen thematisiert worden war, hätte man die für den Fall Amri relevanten Informationen eines ausländischen Geheimdienstes teilen können, sogar müssen. Aber den Berliner Staatsschutz erreichten die dezidierten Hinweise aus Marokko erst nach dem Terroranschlag. Während einer der Sitzungen im GTAZ hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz „die Hand gehoben“ wie im Untersuchungsausschuss mitgeteilt wurde, um den Hinweisen aus Marokko nachzugehen und diese anschließend an die zuständigen Sicherheitsbehörden weiterzugeben. Stattdessen aber hatte der deutsche Inlandsgeheimdienst sich lediglich an das FBI gewandt um eine Bewertung der Hinweise einzuholen.

Im Berliner Landeskriminalamt hatten Beamte wenige Wochen nach dem Terroranschlag festgestellt, dass ihnen darüber hinaus Informationen vom BKA vorenthalten worden waren. Mit einer E-Mail des Bundeskriminalamts (mit dem Vermerk „WICHTIGKEIT: HOCH“) hätten die Hinweise des marokkanischen Inlandsgeheimdienstes im Februar 2016 außerdem nachträglich „entschärft“ werden sollen. Dabei sei die Relevanz der Informationen für die Abwehr der in der zweiten Hälfte des Jahres 2016 sehr konkreten Gefahrenlage vom BKA bewusst heruntergespielt worden. Die Frage, warum man die Hinweise des marokkanischen Geheimdienstes nicht vollständig an die für den Fall Amri zuständigen Landesbehörden in Nordrhein-Westphalen und Berlin hatte weiterreichen wollen, bleibt vorerst unbeantwortet.

 

[1]Wie aus einer letzte Woche veröffentlichten Mitteilung des Deutschen Bundestages hervorgeht, wird die Verzögerung der Auffindung des im Führerhaus hinterlegten Ausweisdokumentes nun während der nächsten Sitzung des Untersuchungsausschusses erneut thematisiert. Zusätzlich thematisiert wird dieser Aspekt in einem separaten Beitrag: Auffälligkeiten bei der Spurensicherung im Tatfahrzeug

[2]Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses eruieren den Namen des damaligen Staatssekretärs und die Zeugin, die zuvor angegeben hatte, sich aufgrund ihres schlechten Gedächtnisses nicht an den Namen des Mannes erinnern zu können, bestätigt daraufhin dessen Identität.

 

Urheberin: Sarah Körfer

Veröffentlicht am 27. Februar 2020

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