Offene Fragen bei der forensischen Spurensicherung

Der erste Zeuge des öffentlichen Teils der 90. Sitzung des bundesparlamentarischen Untersuchungsausschusses, der seit siebzehn Jahren beim BKA beschäftigte, 41-jährige Kriminalhauptkommissar A. Q., der zwei Tage nach dem Terroranschlag seine drei Monate andauernden Ermittlungsarbeiten in der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „City“ aufgenommen hatte, teilte am 28.05.2020 mit, dass sich auf der Außenseite der Fahrertüre des Tatfahrzeugs vier Fingerabdrücke des mutmaßlichen Attentäters Anis Amri gefunden hätten. Im Innenraum des Führerhauses, in dem der zum Tatzeitpunkt 23-jährige Tunesier gesessen haben sollte, hatten sich ausschließlich Mischspuren des mutmaßlichen Attentäters finden lassen.

Offiziell nicht bestätigt wurde eine postume Untersuchung der Kleidung des mutmaßlichen Attentäters, der bei Eintritt des Todes noch immer dieselbe Hose trug, die er zum Zeitpunkt des Terroranschlags getragen hatte -ein Umstand, der durch den während der 90. Sitzung des bundesparlamentarischen Untersuchungsausschusses vernommenen Zeugen zunächst bestritten worden war
 
Mit einer entsprechenden Analyse hätte sich Glasmehl an der Kleidung des mutmaßlichen Attentäters feststellen lassen, so, wie es auch an der Kleidung des polnischen LKW-Fahrers Lukasz Urban nachgewiesen worden war. 

Eine forensische Untersuchung der Kleidung Anis Amris hätte sichere Aufschlüsse darüber geliefert, ob der mutmaßliche Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz sich zum Zeitpunkt des Terroranschlags tatsächlich in dem Führerhaus des Tatfahrzeugs befunden und dieses in eine Gruppe von Zivilisten gesteuert hatte. In der zum Tatzeitpunkt vom Attentäter getragenen Kleidung hätten sich Rückstände der durch den Aufprall zerstörten Windschutzscheibe und Fasern diverser Materialien aus dem Innenraum des LKW nachweisen lassen. Die Ergebnisse einer entsprechenden Analyse, sofern sie bei diesem politisch so prekären Kriminalfall durchgeführt wurde, wurden dem bundesparlamentarischen Untersuchungsausschuss bislang nicht vorgelegt (Stand 21.8.2020). 

Immer mehr Indizien sprechen gegen eine mögliche Täterschaft des lange als Einzeltäter gehandelten Mannes, der am 23. Dezember 2016 in einem Vorort von Mailand erschossen worden war.

Lediglich auf einem mobilen Gegenstand innerhalb des Führerhauses hatten sich Fingerabdrücke und DNS-Material Anis Amris sicherstellen lassen: dabei handelte es sich um einen Zettel, der am 10. Januar 2017 drei Wochen nach dem Anschlag auf der Tachoanzeige aufgefunden worden war. Weiterhin waren zwei Fingerabdrücke auf einer Banknote in einem Portemonnaie gefunden worden, das ebenfalls im Führerhaus des Tatfahrzeugs aufgefunden worden war. Erkenntnissen der forensischen Spurensicherung zufolge ist der ehemalige Hauptverdächtige Anis Amri schließlich als möglicher Mittäter „in Betracht zu ziehen“.

„Wir gehen davon aus, dass er angeschnallt war“ antwortet der Zeuge kurz als er gefragt wird, warum die Leiche des Tunesiers keinerlei durch den Unfall verursachten Schnittwunden oder Prellungen aufgezeigt hatte.

Eine Einzeltäterschaft des Tunesiers scheint auf der Grundlage neu gewonnener Erkenntnisse ausgeschlossen werden zu können. Selbst Hinweise auf die unmittelbare Täterschaft Anis Amris, von dem nicht einmal bekannt ist, ob er jemals im Besitz eines Führerscheins war, erscheinen immer weniger haltbar. Nach einer Erklärung gefragt, wie der mutmaßliche Attentäter vom Breitscheidplatz, der während der letzten fünf Jahre vor dem Tag des Terroranschlags kein Kraftfahrzeug mehr gesteuert hatte, einen schweren Sattelzug über eine Strecke von sechs Kilometern reibungslos durch den dichten Verkehr der bundesdeutschen Hauptstadt hatte lenken können, antwortet der nächste Zeuge, ein weiterer Kriminalhauptkommissar des BKA (KHK D.G., Beweisbeschluss Z-188), dass man den Sachverhalt beim BKA „betrachtet“ hätte. Eine Erkenntnis darüber, wie der mutmaßliche Einzeltäter des bislang schwersten in Berlin verübten Terroranschlags LKW fahren gelernt haben sollte, hätte das Bundeskriminalamt nach dreieinhalbjähriger Ermittlungsarbeit jedoch nicht.   

Die lange vertretene Theorie eines radikalislamischen „einsamen Wolfes“ durch den die sicherheitspolitisch federführenden Behörden am 19. Dezember 2016 als Resultat einer Ansammlung von Ungereimtheiten und widersprüchlichen Zufällen überrumpelt worden seien, lässt sich so nicht mehr halten.

Der LKW war gemäß den GPS-Daten des polnischen Speditionsunternehmens zunächst um 15:44 Uhr gestartet, von 16:32 bis 17:34 Uhr in Betrieb genommen und im Anschluss wiederholt gestartet und bewegt worden, bevor das Fahrzeug schließlich um 20:02 Uhr als Tatwaffe des bislang schwersten Terroranschlags in der Bundesrepublik Deutschland in einen Berliner Weihnachtsmarkt gesteuert worden war.

Der Aufenthalt eines Gelegenheitstäters, eines ungeübten Amateurs, im begrenzten Innenraum des Führerhauses eines LKW würde sich anhand eindeutigen DNS-Materials und daktyloskopischer Spuren belegen lassen.

Der BKA-Beamte gibt an, „den Kontext der Entscheidung“ infolge dessen Beweismaterial aus dem Führerhaus nicht analysiert worden war, nicht zu kennen, versucht die Frage aber durch „sachliche Erwägungen der Verfahrensführung“ oder „einer bestimmten Auslastungssituation“ zu erklären.

Die Untersuchungen zu dem auf dem Berliner Breitscheidplatz verübten Terroranschlag lassen bislang die Fragen zur mittelbaren aber auch zu der unmittelbaren Täterschaft sowie weiterführende Fragen zur eigentlichen Urheberschaft des Anschlags offen.

Auch der Frage, inwieweit es sich bei dem am 19.12.2016 in Berlin verübten Terroranschlag um ein vorsätzliches Begehungs- oder um ein Unterlassungsdelikt handelt, muss zum Schutz der staatlichen Autonomie und des demokratischen Staatssystems der Bundesrepublik Deutschland dringend nachgegangen werden.

Ein durch sicherheitspolitische Argumentationen gestütztes Handlungsvakuum der federführend in den „Fall Amri“ involvierten Bundessicherheitsbehörden kann unter diesen Voraussetzungen, nämlich den Interessen und dem Schutz des Rechtsstaats, politisch nicht mehr gewährleistet werden.

Autorin: Sarah Körfer

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