EUROPA I.

Die behauptet fortbestehenden zwischenstaatlichen Spannungen zwischen den USA und Russland als primäres internationales Konfliktfeld das durch den Ukrainekonflikt widerbelebt wurde, sind nicht ausschlaggebend für das geopolitische Zeitgeschehen.

Öffentliche Darstellungen die eine entsprechende Betrachtungsweise nahelegen, sind irreführend.

Die geopolitischen Entwicklungen der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben durch die Vergrößerung ostasiatischer Machtbereiche eine neue Hierarchieebene geschaffen, deren Existenz sich negativ auf die politischen Einflussbereiche der ehemaligen Kontrahenten USA und Russland auswirkt. Vor diesem Hintergrund haben sich die zwischenstaatlichen Beziehungen Russlands und der USA grundsätzlich neu ausgerichtet. Der in diesen Zusammenhängen zur Schau gestellte politische Konflikt zwischen Russland und den USA ist für die gegenwärtige Entwicklung internationaler Beziehungen nicht richtungsweisend.

Aktuell ist es primär die Weigerung der US-amerikanischen Regierung den wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einfluss der Volksrepublik China zu akzeptieren, die ein zunehmendes Risiko für den Weltfrieden darstellt und Europa in eine sicherheitspolitische Sackgasse zwingt.

Der militärische Angriff auf einen an die Europäische Union angrenzenden Staat provoziert die politische Aufwertung und eine wesentliche militärische Stärkung der Organisation des Nordatlantikvertrags. Denn zwei Drittel der Staaten aus denen sich die NATO zusammensetzt, gehören der Europäischen Union an.

Militärische Bündnisse richten sich nicht nach politischen Ideologien, sie richten sich grundsätzlich nach den Interessen derer, die sie bilden. Der auf die Ukraine ausgeführte Angriff scheint Europa in die Verteidigungslinien des letzten Jahrhunderts zurückzudrängen. Diese Entwicklung wirkt sich positiv auf die militärischen Handlungsräume der USA aus und stellt vor dem internationalen Panorama der Gegenwart zugleich ein zunehmendes Risiko für die Sicherheit aller Mitgliedstaaten der NATO dar.

Seit dem Zweiten Weltkrieg kam militärischen Bündnissen eine vornehmlich wahrende Funktion zuteil, deren zentrale Aufgabe darin bestand, den Status Quo der internationalen Staatengemeinschaft zu wahren. Die politische Zielsetzung einer NATO-Mitgliedschaft besteht in der zwischenstaatlichen Sicherheit, die ein Verteidigungsbündnis den Mitgliedstaaten aufgrund der militärischen Erweiterungsinvestitionen und der durch das Bündnis geschützten staatlichen Integrität ermöglichen soll.

Die durch eine NATO-Mitgliedschaft erzielte Sicherheit setzt praktisch aber eine Einschränkung in der außenpolitischen Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten voraus:

Die Terroranschläge des 11. September 2001 haben gezeigt, dass im Kontext eines bewaffneten Angriffs auf einen Bündnispartner auch auf der Grundlage ungeklärter Umstände unweigerlich Artikel 5 des NATO-Vertrages in Kraft tritt. Auf dieser Grundlage wird die außenpolitische Autonomie der Mitgliedstaaten der NATO in wesentlichen Bereichen eingeschränkt. Die Wahrung staatseigener Interessen wird somit einem Risiko ausgesetzt und könnte unter bestimmten Voraussetzungen vollständig ausgesetzt werden.

 

 

Berlin, 16. Mai 2022

Sarah Körfer

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