Die Affäre Breitscheidplatz

Der Anschlag hinterließ zwölf Tote, über siebzig teils schwer Verletzte und deren Angehörige, denen das Attentat für den Rest des Lebens auf traumatische Weise in Erinnerung bleiben wird. Ein anderer schwerwiegender Aspekt des Berliner Terroranschlages, dem aber sehr viel weniger mediale Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, sind die politischen Implikationen des Attentats. Im Raum steht nicht nur der Vorwurf behördlichen Versagens, mittlerweile verdichtet sich in diesem Zusammenhang sogar der Verdacht auf Vorsätzlichkeit und somit Beihilfe zum Mord. Am 24. Mai 2017 wurde durch die AfD-Fraktion ein Untersuchungsausschuss: „Der Anschlag vom 19.12.2016 am Breitscheidplatz.  Vorgeschichte, Abläufe und Folgerungen für das Land Berlin“ eingereicht, dessen Untersuchungsgegenstand die „Herbeiführung eines Gesamtbildes derjenigen Umstände, die den Terroranschlag am Breitscheidplatz begünstigt oder ermöglicht haben“[1] sein wird.

Ein mutmaßliches politisches Trittbrettfahren, dessen „vollständige Aufklärung“[2]  einen innerpolitischen Skandal nach sich ziehen würde, der so groß wäre, dass seitens der Politik inzwischen zwar zahlreiche Willensbekundungen, aber nur verhaltene Maßnahmen zur Aufklärung erfolgt sind, da die Affäre Breitscheidplatz längst zum Politikum geworden ist. Ein Politikum, das dem Radar der Öffentlichkeit in seinem ganzen Ausmaß bislang paradoxerweise nicht zuletzt aufgrund seiner Brisanz entgangen ist und infolgedessen für politische Akteure derzeit nur eine verhältnismäßig geringe öffentliche Anerkennung verspricht. Im Gegenzug dazu riskiert jeder, der dieses Thema aufgreift und dies nicht mit der gebotenen Vorsicht tut, ins politische Abseits zu geraten. Denn der Versuch einer „rückhaltlosen Aufklärung“ dieser Affäre würde nicht nur isolierte Ermittlungen gegen einzelne Beamte nach sich ziehen. Er würde die gesamte Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik in Frage stellen.

Trotzdem, oder gerade deshalb, ist die Aufklärung der Affäre Breitscheidplatz kein Gegenstand, der in alleiniger Verantwortung der Justiz übertragen werden kann. Aber um diesen Sachverhalt rückhaltlos aufklären zu können, fehlen unserem Rechtsapparat ohnehin die hierfür erforderlichen Möglichkeiten. Stattdessen wird der Vorsitz des in dieser Angelegenheit eingesetzten Untersuchungsausschusses sogenannten „Experten“ anvertraut, die aber in erster Linie eines auszeichnet: eine in Anbetracht der Schwere der Vorwürfe unverhältnismäßig behördenfreundliche Haltung und eine wenig simulierte Scheu, die eigene Partei mit einer Durchleuchtung der vorliegenden Sachverhalte kompromittieren zu wollen. Denn klar ist: die Verantwortung für behördliche Aktivitäten trägt in letzter Instanz die amtierende Regierung.

Doch deren Vertreter reagieren in diesen Zusammenhängen vorrangig mit Lippenbekenntnissen, mit denen Absichten einer „vollständigen und nachhaltigen Aufklärung“ des Fall Anis Amri nicht nur kundgetan, deren Umsetzung auch vollmundig versprochen wird. Verschwiegen wird dabei allerdings, dass dem Untersuchungsausschuss die technischen Möglichkeiten für ein entsprechendes Unterfangen gar nicht gegeben sind. Die für die „vollständige Aufklärung“ erforderliche Einsicht in relevante Akten und Unterlagen kann nur bei den im Mittelpunkt der Ermittlungen stehenden Behörden selbst beantragt werden. Dementsprechend obliegt auch das Ermessen des Informationsgehaltes der für eine effektive Untersuchung notwendigen Beweise der ausstellenden Instanz –in diesem Fall der bei dem Attentat mutmaßlich involvierten Behörde. Denn weder Wahrheitsgehalt noch Vollständigkeit der Unterlagen können extern überprüft werden.

„Wir sehen nur, was die uns zeigen wollen“

„Wir sehen nur, was die uns zeigen wollen“, antwortet mir ein Mitglied des Ausschusses für Verfassungsschutz auf die Frage nach der Informationsbereitstellung. Meine Frage bezog sich auf die praktische Umsetzung des in der Berliner Verfassung in Artikel 45, Absatz 2 definierten Einsichtsrechts in Akten und Unterlagen der Mitglieder der für die Kontrolle des Verfassungsschutzes zuständigen Gremien [3]. „Wir müssen uns da auf den guten Willen unserer Ansprechpartner verlassen“, sagt ein anderer Vertreter des Abgeordnetenhauses von Berlin. Der muss es wissen: er ist Mitglied in zwei Ausschüssen, die sich mit dem Thema Innere Sicherheit und Verfassungsschutz befassen.

Diese Information stellt das Fundament sämtlicher existierender Kontrollinstanzen mit Bezug auf den Verfassungsschutz in Frage: Alle den Verfassungsschutz betreffenden Informationen werden durch die Behörde selbst zugänglich gemacht und es gibt keine Instanz, die die technischen Voraussetzungen hätte, Wahrheitsgehalt oder Vollständigkeit dieser Daten zu überprüfen. Somit gibt es bundesweit keine Kontrollinstanz, die in der Lage wäre, die zur Verfügung gestellten Informationen, welche die Grundlage für sämtliche Untersuchungen und Ausschüsse bilden, auf deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Dieser Sachverhalt bleibt selbst dann bestehen, wenn gegen die Behörde selbst ermittelt wird.

„Wir bräuchten einen Whistleblower“

Der Untersuchungsausschuss wurde aufgrund eines mutmaßlichen behördlichen Mitverschuldens am Berliner Terroranschlag vom 19. Dezember 2016 beantragt, ein Mitverschulden, bei dem inzwischen der Verdacht auf Vorsätzlichkeit gegeben ist. Aber diese Tatsache scheint nicht alle zu beunruhigen: „Noch ist ja nichts erwiesen“. Die Mitschuld einer Behörde zu beweisen wird unter den gegebenen Voraussetzungen auch nicht leicht. Natürlich können im Rahmen des Untersuchungsausschusses Zeugen geladen werden –aber die Verlässlichkeit der Aussagen wird in erster Linie wieder auf eines Hinauslaufen: das Voraussetzen eines Willens, der, um der Wahrheit Genüge tun zu können, so gut sein müsste, dass geladene Zeugen im Zweifelsfall Kollegen, Mitarbeiter oder auch sich selbst belasten würden. Aber ein solches Szenario entspricht reinem Wunschdenken: „Was wir bräuchten“, sagt ein anderes Mitglied des Ausschusses für Verfassungsschutz im vertraulichen Rahmen, „ist ein Whistleblower“.

Genauso beunruhigend wie die technischen Voraussetzungen für eine „lückenlose Aufklärung“ des im Dezember vergangenen Jahres am Berliner Breitscheidplatz verübten Verbrechens sind die Fakten: ein trotz mehrfacher, durch das BMI selbst ausgesprochener, expliziter Warnungen gar nicht geschützter Weihnachtsmarkt im Herzen der Hauptstadt, ein Terrorverdächtiger der, bereits als „Schläfer“ eingestuft mal observiert wurde, dann wieder nicht, wiederholt in Abschiebehaft saß, immer wieder frei kam und der sich mit 14 verschiedenen Identitäten und trotz kriminellem Hintergrund frei in der Bundesrepublik bewegen konnte –verschiedenen Quellen zufolge sogar von einem V-Mann von Bielefeld nach Berlin gefahren worden war. Und der seinen Ausweis am Tatort zurückließ und trotz landesweiter Fahndung schließlich bis nach Italien fliehen konnte wo er, der eigentliche Hauptzeuge in diesem Mordfall, von Beamten auf der Flucht erschossen wurde.

Berlin, den 11. Juni 2017

[1] https://www.parlament-berlin.de/ados/18/IIIPlen/vorgang/d18-0371.pdf

[2] http://www.deutschlandfunk.de/fall-anis-amri-vertuschung-rueckhaltlos-aufklaeren.694.de.html?dram%3Aarticle_id=386850

[3] https://www.parlament-berlin.de/C1257B55002AD428/vwContentbyKey/F0F83AD9014A59ECC125811E003B6290/$FILE/VvB%2022.03.16.pdf

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.