Am Eingang des zum Komplex des Bundestages gehörenden Gebäudes in der Wilhelmstraße 86 holt mich der persönliche Mitarbeiter von Dr. Gregor Gysi ab. Der Mitarbeiter trägt eine Tasche voller Bücher bei sich: „alles Biografien, Einhunderttausend verkaufte Exemplare.“ Er führt mich durch ein paar gläserne Gänge und Korridore. Es ist kalt heute. Es ist November und in wenigen Wochen jährt sich der Tag des Terroranschlags der am 19. Dezember auf dem Berliner Breitscheidplatz verübt wurde zum zweiten Mal.
Als wir ankommen telefoniert Dr. Gysi gerade –die Tür zu seinem Büro steht offen. Nachdem er aufgelegt hat greift er nach einem Apfel und hält ihn mir hin: „Wollen Sie?“ „Nein Danke, ich habe gerade jede Menge Äpfel von der Ostsee mitgebracht.“ Nachdem wir uns gesetzt haben, beginne ich unser Gespräch mit den Worten: „Würden Sie mir zustimmen, dass wir momentan ein Korruptionsproblem in der Bundesrepublik haben?“ „Momentan?“ Ich hatte mich vorsichtig ausdrücken wollen, merke aber schnell, dass sich das anschließende Gespräch offen gestalten würde. Dabei stelle ich fest, dass Politik für Gregor Gysi nicht nur gelernte Praxis ist. Sie ist seine Leidenschaft.
Nachdem wir uns verabschiedet haben, mache ich mich auf den Weg ins Abgeordnetenhaus. Heute Abend tagt in der dritten Etage das Podium „Aufklärung des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz“. Diese von der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN gehaltene Veranstaltung ist ein Rückblick auf die Ereignisse und die inzwischen gewonnen Erkenntnisse um den am 19. Dezember 2016 in Berlin verübten Terroranschlag.
Im Empfangsbereich begegne ich einem Mann, der bei dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz fast selbst das Leben verloren hätte. Ich kenne ihn privat: er ist ein echter Berliner und lässt sich von niemandem den Mund verbieten. Er fordert Aufklärung. Auch die Sprecherin der Opferangehörigen, Astrid Passin, steht ein paar Meter von uns entfernt und spricht mit den Abgeordneten Antje Kapek und Benedikt Lux; Astrid Passin verlor ihren Vater bei dem Anschlag. Auch sie gehört zu den Menschen die Aufklärung fordern. „Immer dieselben Gesichter!“ begrüßt sie mich. Ich nicke ihr zu. Weihnachten ist eine harte Zeit für die Personen die sich am Abend des 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz eingefunden hatten. Aber vielleicht noch trauriger wurde Weihnachten für jene, die an diesem Abend ihre Angehörigen verloren. Ein Tourist aus Israel verlor seine Frau –bei dem Attentat wurden außerdem seine Beine zerschmettert. Eine Studentin aus der Ukraine verlor bei dem Terroranschlag beide Eltern. Einem anderen Mann gelang es seine Frau aus der Bahn des heranrasenden Lastwagens zustoßen; im nächsten Augenblick wurde er selbst von dem Fahrzeug erfasst unter dessen Rädern er sein Leben verlor.
„Wie geht es dir?“ frage ich Astrid. „Es ist eine schwere Zeit“ sagt sie. Einige Abgeordnete haben sich mittlerweile im Saal 376 eingefunden, auch der Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Dr. Dirk Behrendt ist unter den Gästen. „Dass es Fehler gegeben hat, das ist bekannt,“ sagt Antje Kapek nachdem sie den Opfern und den Opferangehörigen des Terroranschlags ihr Beileid ausgesprochen hat.
Ihr folgt der Abgeordnete Benedikt Lux der als Obmann im Untersuchungsausschuss auf Länderebene die Fraktion vertritt. „Natürlich“, sagt er, „ebbt das Interesse der Öffentlichkeit für dieses Thema langsam ab.“ Dennoch räumt er kurze Zeit später ein, dass man sich im Rahmen des Untersuchungsausschusses an dieses Thema „herantasten“ müsse. Weiterhin erkennt er an, dass es die Öffentlichkeit selbst ist, die den Untersuchungsprozessen den notwendigen Auftrieb verleiht. Das die Öffentlichkeit das Interesse an diesem schwerwiegenden Sachverhalt verliert entspricht allenfalls dem Wunschdenken Einzelner. Denn die politischen Zusammenhänge des Terroranschlag Breitscheidplatz sind so brisant und aktuell wie während des ersten Tages nach dem Anschlag.
Auch Astrid Passin und Andreas Schwartz sitzen heute Abend als Redner auf dem Podium. Sie vertreten die Opfer und deren Angehörige und erst durch sie wird die heutige Podiumsdiskussion real. Ihre Anwesenheit begründet sich nicht auf die geschuldete Formulierung politischer Floskeln. Sie sitzen dort in einer Reihe mit Abgeordneten des Berliner Landtags und einem Vertreter der Berliner Morgenpost. Und dennoch sitzen sie für sich allein. Die eine beschreibt den traumatischen Verlust ihres Vaters, der andere beschreibt den Unfall und den anschließenden Verlauf eines Krankenhausaufenthalts. Schmerzen haben beide bis heute. Weihnachten, das war mal.
Während Astrid erzählt beginne ich zu weinen. Ich sitze sehr weit vorne, die ersten Reihen des Saals sind dünn besetzt und empfinde Scham für die Gefühle die mich jetzt überwältigen. Fast zwei Jahre recherchiere ich den Terroranschlag, spreche mit Zeugen und Mitgliedern der Untersuchungsausschüsse und setze mich für Kohärenz und Effizienz der Untersuchungsprozesse ein. Dabei stehen im Zentrum dieser Recherche die ausgelöschten Leben von zwölf Menschen. Manchmal macht es mich wütend, manchmal traurig. Aber Zeit zum Weinen hatte ich bei der Recherche nie. Und plötzlich bin ich überwältigt von der Trauer um zwölf Menschen die ich nie kennengelernt habe und auch nicht kennenlernen werde. Es ist ein Moment der weit weg ist vom politischen Geschehen –trotzdem holt er mich ein, hier im Abgeordnetenhaus. Plötzlich wird mir klar, dass es keine Paragraphen, Richtlinien oder politische Floskeln sind die sich im Abgeordnetenhaus gestalten: es ist das Schicksal Einzelner, die im Staat zusammenfinden und sich hier neu definieren. Das politische Geschehen sind wir.