41. Sitzung des 1. parlamentarischen Untersuchungsausschusses

Insgesamt drei Zeugen waren am 21. Februar 2019 zur 41. Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses geladen worden. Einer von ihnen war Lokman D. Der syrische Kurde war ein Mitbewohner des späteren Attentäters in der Flüchtlingsunterkunft in Emmerich. Seiner Aussage zufolge hatte Amri in der Flüchtlingsunterkunft zum heiligen Krieg aufgerufen und stand mit Vertretern des Islamischen Staats in Syrien über Videochats in Kontakt. Über dieses Verhalten hatte Lokman D. einen Betreuer in der Unterkunft informiert, der ihm aber mitteilte, dass ihm „die Hände gebunden seien“ weil A. Amri unter „dem Schutz des Sozialamtes“ stehe.

Ein weiterer Zeuge der während der 41. Sitzung des Untersuchungsausschusses aussagte war der Leiter des Berliner Kriminalamts Christian Steiof. Während der Sitzung gab Steiof an, dass Telekommunikationsüberwachungen in deren Fokus Bilal Ben-Amar gestanden hatte, Informationen entnommen worden waren, die auch den späteren Attentäter A. Amri betrafen. Ben-Amar, das ist der Name einer der wichtigsten Zeugen im Fall Terroranschlag Breitscheidplatz. Medienberichten zufolge kann nicht ausgeschlossen werden, dass er beim Anschlag anwesend, beziehungsweise sogar Mittäter gewesen ist. Das würde auch mit früheren Aussagen eines Tatzeugen übereinstimmen dessen Aussagen zufolge zwei Personen im Führerhaus des bei der Tat eingesetzten LKW gesessen hatten. Den Aussagen des Zeugen zufolge sei eine bislang nicht identifizierte Person, die während des Anschlags auf dem Beifahrersitz gesessen habe, aus dem Führerhaus des Fahrzeugs gesprungen nachdem der LKW zum Stillstand gekommen war.

Offiziell bestätigt wurde inzwischen, dass der nach dem Attentat kurzfristig abgeschobene Bilal Ben-Amar den Attentäter noch am Vorabend des Anschlags getroffen hatte. Nach dem Attentat jedoch hatte man den wichtigen Zeugen Bilal Ben-Amar ohne Weiteres abgeschoben. Auch diese Maßnahme stellt eine Auffälligkeit im Zusammenhang mit dem bislang größten in der Bundesrepublik verübten Terroranschlag dar. Ob der als „untergetaucht“ gehandelte Ben-Amar tatsächlich als Zeuge vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aussagen wird, bleibt offen. Amtlichen Angaben zufolge ist der aktuelle Aufenthaltsort des mutmaßlichen Mittäters den Behörden nicht bekannt.

Die Frage des Abgeordneten Felgentreu, ob der Attentäter einen Mittäter gehabt habe, wehrt der Zeuge ab: „Das ist Spekulation.“ Dennoch räumt er ein, dass der Täter „nicht komplett alleine gehandelt“ haben könne. Man tappe weiterhin im Dunkeln, gesteht er offen ein. Dabei versucht er nicht, die Fehler der eigenen Behörde kleinzureden oder auszublenden. Ein tatsächlicher behördenübergreifender Informationsfluss wurde jedoch tatsächlich nur im NIAS (Nachrichtendienstliche Informations- und Analysestelle) sichergestellt. Aber die verantwortlichen Ämter verweigern in diesen Zusammenhängen weiterführende Auskünfte.

Aufgrund „der auffälligen Menge der handwerklichen Fehler“ wird der Leiter des Landeskriminalamts nach seiner Einschätzung zu einer möglichen vorsätzlichen externen Einflussnahme auf die Abläufe gefragt. „Könnte es sein, dass man Sie veranlassen wollte?“ fragt der Abgeordnete Klaus-Dieter Gröhler den Zeugen. Macht mal den nicht ganz so“ –das, sagt der Zeuge, entspräche nicht seinen Erfahrungen als Leiter des Landeskriminalamts. Aber der Terroranschlag Breitscheidplatz ruft eben auch daher so viel Ratlosigkeit hervor, weil die Dimensionen dieses Ereignisses vollkommen neu sind in der Bundesrepublik. Warum es so viel anders gelaufen ist als es den operativen, den technischen und den gesetzlichen Möglichkeiten entsprechend hätte laufen müssen, kann zu diesem Zeitpunkt weiterhin nur spekuliert werden.

Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Armin Schuster versucht den neu entstandenen Fokus des Ausschusses zu rividieren indem er eine „mangelnde Zentralisierung“ bundesrepublikanischer Sicherheitsbehörden als mögliche Ursache für offensichtliche Inkohärenzen in die 41. Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses mit einbringt. Vielleicht, tastet sich Schuster vor, läge es ja nur daran, dass „niemand den Hut aufgehabt hätte“ bei den Ermittlungsarbeiten die um den Gefährder geführt worden waren. Aber diese Interpretation der Abläufe steht grundsätzlich im Widerspruch zu den Erkenntnissen der um den Terroranschlag Breitscheidplatz erfolgenden Untersuchungsprozesse.

Denen zufolge wird die immer wieder angeführte Nachlässigkeit als Ursache für die Fehler, aufgrund derer der Terroranschlag schließlich zustande kam, immer unwahrscheinlicher. Denn tatsächlich war es nicht nur eine fahrlässige Passivität die den Eintritt des Anschlags begünstigt hatte; es waren aktive Eingriffe in die im Vorfeld des Terroranschlags eingetretenen Abläufe die den Tateintritt ermöglicht hatten.

So wird Christian Steiof auch zur Verhinderung des Ausreiseversuchs des Terroristen befragt. Denn die Anweisung, den späteren Attentäter durch die Bundespolizei aus einem Fernreisebus entfernen zu lassen und an der von Amri geplanten Ausreise aus Deutschland zu hindern, soll aus dem Berliner Landeskriminalamt hervorgegangen sein [1]. Bei der anschließenden Überstellung Amris an das Amtsgericht Ravensburg wurden Informationen zu schwerwiegenden Straftaten vorenthalten die sich der spätere Attentäter während er durch Sicherheitsbehörden observiert worden war hatte zuschulden kommen lassen. So wurde der Attentäter zwar an einem Ausreiseversuch gehindert –zwei Tage später jedoch musste er wieder aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Dem Ravensburger Amtsgericht hatten keine strafrelevanten Informationen vorgelegen die zu einer längerfristigen Inhaftierung des Gefährders hätten führen können. Vollkommen ungeklärt ist außerdem, ob und wie lange Amri nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft observiert wurde.

Nach wie vor ungeklärt bleibt auch, auf wessen Anregung die in Baden-Württemberg eingetretenen Ereignisse veranlasst worden waren und warum Amri am Verlassen der Bundesrepublik gehindert werden sollte. Vertreter des Untersuchungsausschusses bezeichnen diesen Vorgang weiterhin „als nicht nachvollziehbar“. Auch die Frage, warum die um den Attentäter erfolgten TKÜ-Maßnahmen „erhebliche Lücken“ enthalten hatten, „auch solche, die Informationen enthielten, mit denen man andere Maßnahmen hätte treffen können[2]“ (Christian Steiof, 41. Sitzung parlamentarischer Untersuchungsausschuss) bleibt unbeantwortet.

Außerdem wird während der 41. Sitzung des Untersuchungsausschusses dem weitestgehend ungeklärten Sachverhalt zum Einsatz von Vertrauenspersonen im Umfeld des Terroristen nachgegangen. „Wo und in welchem Umfang sich das Bundesamt für Verfassungsschutz hier in Berlin tummelt“ könne der Leiter des Landeskriminalamtes Berlin aus seiner Position heraus nicht feststellen. Bestätigt werden konnte bislang nur, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in der Fussilet-Moschee zumindest eine Quelle geführt hatte. Auch in diesem Zusammenhang hatte das Bundesamt wiedersprüchliche Angaben gemacht. Eine Sachbearbeiterin aus dem nachrichtendienstlichen Umfeld hatte zunächst den Einsatz eines V-Mannes des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Umfeld Amris bestätigt, darüber hinaus hatte die Zeugin bestätigt, dass man beim Bundesamt eine Personenakte zu Amri führte und den Tunesier als Islamist mit Gefährdungspotential eingestuft hatte. Die Angabe der Zeugin war zu einem späteren Zeitpunkt allerdings durch das Bundesamt, das Amris Gefahrenpotential inzwischen erst retrograd erkannt haben will, wiederufen worden.

Das BfV hat erwartet, dass wir darüber Stillschweigen bewahren. Das kam für uns überhaupt nicht in Frage.“ Der Leiter des Berliner LKA schildert weiter, dass die Führung von polizeilichen Vertrauenspersonen „anders“ wäre als bei den Nachrichtendiensten. Dort arbeite man mit Personen, „die eine kriminelle Karriere hatten oder noch haben.“ Die Einbindung krimineller Mitarbeiter in den polizeilichen Dienst ist gesetzlich nicht möglich.

Die Abgeordnete Irene Mihalic erkundigt sich nach einer weiteren Stratat die Amri im Juli 2016 begangen hatte -auch hier war keine Strafanzeige gegen Amri gestellt worden. Dabei handelte es sich um einen Fall von schwerer Körperverletzung an dem der spätere Attentäter maßgeblich beteiligt gewesen sein sollte. „Da hätte es eine Möglichkeit gegeben Amri aus dem Verkehr zu ziehen -Warum ist das nicht geschehen?“ fragt die Abgeordnete. „Wo ein Wille ist“ sagt der Leiter des LKA, „da ist auch ein Weg“. Und dann fügt er hinzu, dass die Tatbeteiligung Amris auch in diesem Fall „für wahrscheinlich erachtet“ worden war. Diese Einschätzung sei allerdings erst im Nachhinein erfolgt.

Dem Leiter des Landeskriminalamtes Berlin obliegt die Verantwortung für 3.500 Mitarbeiter. Anzunehmen, dass Christian Steiof zu gegebenem Zeitpunkt über die im Untersuchungsausschuss geschilderten Sachverhalte informiert gewesen war-oder informiert gewesen hätte sein müssen, wäre falsch. Eine mögliche Verantwortung von Einzelpersonen kann im Fall Amri nur individuell und nicht anhand des Dienstgrades festgestellt werden. Vielmehr sind es die Immunität im Handeln und die darauf beruhende strukturelle Zusammensetzung der in diesen Fall involvierten Sicherheitsbehörden die in diesem Zusammenhang beurteilt und reformiert werden müssten um einen Fall wie den des am 19. Dezember 2016 in Berlin verübten Terroranschlag künftig verhindern zu können. Diese strukturellen Defizite betreffen grundsätzlich die Nachrichtendienste des Bundes -deren Verantwortung im Fall Amri nach wie vor erkennbar aber eben aufgrund verdeckter Handlungsräume weiterhin unzugänglich bleibt. Mit Sicherheit festzustellen ist bislang nur, dass mit dem Staatsschutz beauftragte Sicherheitsbehörden (das sind vornehmlich Nachrichtendienste) von der so deutlich in Erscheinung getretenen Entwicklung der Bedrohung radikalislamischen Terrorismus aufgrund finanzieller und personeller Aufstockungen und favorisierender Gesetzesänderungen profitieren konnten. Welche Handlungsmöglichkeiten dem Rechtsstaat gegeben sind angemessen auf diese Entwicklungen zu reagieren um den eigenen Fortbestand sichern zu können wird sich in den nächsten Jahren zeigen.

Es ist davon auszugehen, dass der spätere Attentäter A. Amri von Anfang an „engmaschig“ durch die Nachrichtendienste des Bundes observiert worden war. Den Fragen, warum Amri offenbar eine bislang nicht nachvollziehbare strafrechtliche Immunität anberaumt wurde, warum man ihn im Juli 2016 an einer Ausreise hatte hindern wollen und wie er schließlich untertauchen und nach dem Verüben des Terroranschlags ungehindert bis nach Italien hatte fliehen können, wird der Untersuchungsausschuss weiter nachgehen.

 

 

[1]Diese Angaben wiederlegen die Aussage einer Zeugin aus dem sicherheitsbehördlichen Umfeld die am 25. Januar 2019 vor dem Ausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus ausgesagt hatte, dass der spätere Attentäter bei einer Routinekontrolle zufällig aufgefallen und bei dieser Gelegenheit aus dem Fernreisebus geholt worden sei.

Anderen Zeugenaussagen zufolge sei Amri „getrackt“ worden, Ämter seien von dessen Ausreiseabsichten durch verschiedene TKÜ-Maßnahmen im Detail informiert gewesen und hatten sogar Kenntnis von dessen Plänen in Tunesien mit aus dem Rauschgifthandel gezogenen Geldern einen Fuhrpark aufzubauen.

[2]mit dieser Aussage bezog sich der Leiter des LKA Berlin auf strafrechtliche Maßnahmen (mit denen man eine längerfristige Inhaftierung des zum damaligen Zeitpunkt als Gefährder kategorisierten Amri hätte erwirken können).

 

Autorin: Sarah Körfer

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.