Die Liste der für die 39. Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses „Terroranschlag Breitscheidplatz“ geladenen Zeugen umfasste drei Personen. Zunächst vernommen wurden die Zeugen der Staatsanwaltschaft Arnsberg, Dr. Wolfgang Kowalzik, und der Berliner Staatsanwaltschaft, Jan-Hendrik Schumpich.
Die Anhörung der Zeugen der Staatsanwaltschaft verlief relativ zügig. Auch gab es wenige Anhaltspunkte diese hinauszuzögern –so verzichteten die Abgeordneten der Fraktionen DIE LINKE und Bündnis 90/ Die Grünen bei der Befragung des Zeugen Schumpich ganz auf die ihnen zustehende Fragezeit. Denn der 40-jährige Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Berlin nimmt lediglich Bezug auf die Frage, ob eine strafrechtliche Verurteilung nach § 271 StGB (mittelbare Falschbeurkundung), aufgrund einer mündlichen Falschangabe des Attentäters bei dessen Erstregistrierung möglich gewesen wäre -für eine vorsätzliche Täuschung über die Identität Amris sei diese aber nicht ausreichend gewesen. Heute, gibt der Zeuge an, würde man in solchen Fällen eine Ausländerzentralregisterabfrage stellen. Dabei wären dann alle falschen Identitäten und Alias Personalien zur abgefragten Person ersichtlich.
Um 13:42 Uhr begrüßt der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Armin Schuster den nächsten Zeugen, Axel B., dessen Nachname nicht veröffentlicht wird: Der Zeuge ist leitender Angestellter des Berliner Landeskriminalamtes und war, während der spätere Attentäter A. Amri sich in Deutschland aufhielt, als Leiter des Dezernats „Islamismusbekämpfung“ in der Abteilung 5 (Staatsschutz) im Berliner Landeskriminalamt beschäftigt. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte B. vor dem Berliner Untersuchungsausschuss ausgesagt, dass Amri bereits ab dem 25. November 2015 im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) des Bundes und der Länder thematisiert worden war.
„Der Terroranschlag mit 12 getöteten Menschen und über 70 Verletzten hat mich und mein Dezernat tief erschüttert“ sagt der Zeuge. Er wird zu Amri befragt, darüber, wie man in seinem Dezernat mit der durch den späteren Terroristen ausgehenden Bedrohung umgegangen sei. Dabei habe es „keine personenorientierte Einsätze“ gegeben, gibt der Zeuge an, über den Einsatz von Vertrauens-Personen sei der Zeuge erst im Nachhinein informiert worden: „Es gab keinen Auftrag gezielt gegen die Person Amri einen V-P Einsatz zu führen“ und „niemand im LKA 54 wusste, dass im LKA Berlin V-Ps geführt wurden, die Erkenntnisse zu Anis Amri hatten.“
Zum ersten Mal angesprochen wird der ausschließliche Austausch zwischen Staatsschutz und Verfassungsschutz über einen Single Point of Content (SPoC), der einmal wöchentlich im Dezernat 54 stattgefunden haben sollte. „Da gibt es keine Protokolle“ gibt der Zeuge an. Weiterhin soll es Sitzungen der im Gemeinsamen Terrorismus Abwehrzentrum (GTAZ) vertretenen Behörden gegeben haben, während derer explizit Amri thematisiert worden war. Auch Landesamt und Bundesamt für Verfassungsschutz hatten an diesen Sitzungen teilgenommen.
Während der Sitzung thematisiert wird auch der Sachverhalt der Unterbindung des Ausreiseversuchs des späteren Attentäters in Baden-Württemberg: „Wie kam es zu der Feststellung, dass er dort fährt?“ Der Zeuge gibt an, von Mitte Juli bis Mitte August 2016 „im Urlaub“ gewesen zu sein und keine weiterführenden Angaben zu der „Ausreiseuntersagung“ machen zu können. „Der Einsatz ist, so wie ich es verstanden habe, vom LKA NRW veranlasst worden. Aber ich kann Ihnen zu diesem Einsatz nichts sagen.“
Der Zeuge wurde zur weiteren Vorgehensweise befragt nachdem A. Amri durch das GTAZ als Gefährder eingestuft worden war. „Was haben Sie daraufhin veranlasst?“ Axel B. gibt an, dass eine Überprüfung der Person des späteren Attentäters veranlasst worden war „in der Folge kam es noch zu einer Observation.“
„Am nächsten Tag wurde die Technik aufgebaut –das heißt es wurde eine Kamera aufgestellt“ sagt der Zeuge, „es läuft dann praktisch die Kamera, 24 Stunden am Tag.“
„Wir verlassen uns jetzt auf die technische Überwachung –es findet eine Aufzeichnung statt.“ Der Zeuge gibt an, dass mit dieser einen Kamera verschiedene Personen überwacht worden seien.
„Soweit ich weiß, lief diese Kamera bis zum Februar 2017.“ Auf diese Weise, sagt Axel B., hätte man in Erfahrung bringen können, in welche Richtung sich die Zielperson bewegt habe –ohne dieser „auf der Straße“ folgen zu müssen.
„Wann hat das LKA 54 zum ersten Mal erfahren, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz eine Quelle in der Fussilet Moschee führte?“ erkundigt sich der Abgeordnete Benjamin Strasser, der Obmann der FDP.
„Das habe ich am 16. Februar 2017 erfahren.“
„Nicht 2015?“
Auf weiteres Nachfragen des Abgeordneten -„Sind Sie sich wirklich ganz sicher?“- gibt der Zeuge an, sich nicht erinnern zu können.
„Die Fussilet ist nicht besonders groß, da kann man auch von einem persönlichen Kontakt sprechen.“
Um 14:35 Uhr wird vermerkt, dass „auch der Verfassungsschutz Aufnahmen in diesen Zusammenhängen geführt“ hatte (wobei das Bundesamt für Verfassungsschutz weiterhin leugnet über die Person A. Amri und dessen Gefahrenpotential über den fraglichen Zeitraum informiert gewesen zu sein). Während der Pause der 39. Sitzung des Untersuchungsausschusses wird mir von einem Journalisten des rbb mitgeteilt, dass die externe Kamera im Eingang der Fussilet-Moschee in einem vor dem Gebäude abgestellten Fahrrad installiert worden war. Darüber hinaus waren offenbar auch in Privaträumen Kameras installiert worden.
„Hatten Sie auch Kameras an der Seituna-Moschee?“
„Ja.“
„Warum wurde das Material damals nicht verwendet?“
„Wir haben Informationen aus dem GTAZ bekommen, dass eine Lieferung bevorsteht.“ (Anmerkung: der Hinweis bezog sich auf eine Lieferung von Explosivmitteln die aber der Aussage des Zeugen zufolge niemals abgefangen worden war).
Zur Rückverfolgung des Fluchtwegs des Attentäters:
„Wie konnten Sie denn Amris Fluchtweg nachvollziehen?“
„Durch die Auswertung der Videokamera am zoologischen Garten.“
„Alle anderen Aufnahmen haben wir retrograd bekommen, wo dann relativ gut nachvollziehbar war, wo er sich aufgehalten hatte.“ (Mit der Aussage, dass die Aufnahmen retrograd erhalten worden waren, wird vorausgesetzt, dass die Nachrichtendienste des Bundes während, beziehungsweise direkt nach dem Anschlag keinen Zugriff auf visuelle Aufzeichnungen der vom Täter gewählten Fluchtroute hatten. Ansonsten hätte der Fluchtweg anhand der technischen Daten innerhalb kürzester Zeit ausgewertet werden und so auch der Aufenthaltsort des Attentäters festgestellt werden können.) Den Angaben des Zeugen zufolge gab es keine „konkreten Hinweise“ dafür, dass Amri Beihilfe zur Flucht von „früheren italienischen Bekanntschaften“ hatte.
Zu einem späteren Zeitpunkt der Sitzung gab der Zeuge an, dass er „nicht ausschließen“ könne, dass auch visuelle Aufnahmen von Privatpersonen auf öffentlichen Plätzen ausgewertet werden. Diese Angaben machen die bisherige Schilderungen der Umstände, unter denen der Attentäter das Land verlassen hatte und seine Flucht ungehindert bis nach Italien hatte fortsetzen können, besonders fragwürdig.
Dr. Felgentreu fragt Axel B.: „Bleiben Sie dabei, dass es sich bei Amri um einen Einzeltäter gehandelt hat?“
Axel B. gibt an, dass er das aufgrund der Medienberichte nicht mehr könne.
„Sind denn alle wesentlichen Fragen zu dem Fall aufgeklärt?“
„Nein.“
Um 15:56 wechselt das Fragerecht an Frau Renner. Die Obfrau der Fraktion DIE LINKE kommt auf das Thema zur Gefahreneinschätzung des späteren Attentäters zu sprechen. Erneut weist der Zeuge auf die scheinbare „Verweltlichung“ Amris hin. Der Umstand, dass er gefeiert, das Leben „genossen“ habe, hätte maßgeblich zu der Herabstufung eines wahrscheinlichen Gefahrenpotentials geführt. Am 15.6.2016 sei man dann schließlich im GTAZ zu der Auffassung gekommen, dass von „Amri keine konkrete Gefahr“ ausginge. Die Abgeordnete Renner weist den Zeugen darauf hin, dass bei den Hauptverdächtigen der Terroranschläge in Paris und Brüssel im Nachgang festgestellt worden war, dass sie Alkohol-, Kokain- und Marihuana Rückstände im Blut hatten. Bei dem Berliner Attentäter habe es sich eben um eine behördliche „Fehleinschätzung“ gehandelt schlussfolgert der Zeuge.
Dennoch will die Abgeordnete von dem Zeugen weiter wissen, wer in Berlin „konkret gefährlicher“ gewesen sei als der spätere Attentäter selbst. Der Zeuge nennt keinen konkreten Gefährdungssachverhalt aus dem fraglichen Zeitraum. „Der Bereich in Berlin der islamistisches Potential hatte, war durchaus bei der Fussilet Moschee anzusiedeln“ stellt die Sachverständige fest. Weiterhin habe es „konkrete Hinweise des marokkanischen Geheimdienstes dazu gegeben, was er konkret plant.“ Diesen Angaben zufolge sollten Nachrichtendienste von Drittländern vom konkreten Gefahrenpotential des späteren Attentäters informiert gewesen sein -ohne das staatliche Nachrichtendienste von dem in Deutschland bestehenden Risiko informiert gewesen sein sollten.
Dennoch führt der Zeuge immer wieder die Notwendigkeit einer „ständigen Priorisierung“ als Argument für das scheinbar plötzlich erloschene Interesse an dem späteren Terroristen an.
„Sie haben ja auch im Berliner Untersuchungsausschuss ausgesagt, Anis Amri sei eher eine Randfigur –das passt für mich nicht zusammen.“
Denn Amri hatte mit der gesamten Fussilet-Clique zu tun, wie Irene Mihalic, die Obfrau von Bündnis 90, wenig später konstatiert. „Und er ist da auch ein und ausgegangen.“
Die an der Fussilet-Moschee installierte Kamera hatte kontinuierlich weiter gefilmt.
Autorin: Sarah Körfer