Während der 45. Sitzung des Untersuchungsausschusses Terroranschlag Breitscheidplatz sollte weiterhin der Umgang im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) mit der Personalie des späteren Attentäters A. Amri thematisiert werden. Während der Sitzung am 21. März 2019 sollten insgesamt vier Zeugen aussagen, darunter der Kriminalhauptkommissar Z. aus dem Düsseldorfer LKA, der im Frühjahr 2016 wegen Leistungsmissbrauchs nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gegen Amri ermittelt hatte. Der spätere Attentäter hatte sich in verschiedenen Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge unter falschem Namen eingetragen und auf diese Weise Gelder erschlichen. Die Vernehmung des Zeugen Z. war allerdings aufgrund terminlicher Änderungen für die 45. Sitzung abgesagt worden, der Zeuge R.W. sollte im nichtöffentlichen Teil der Sitzung aussagen. Stattdessen sollte während dieser Sitzung, deren Beginn mehrmals verschoben worden war, der mehrfach in den Medien thematisierten „marokkanischen Spur“ nachgegangen werden.
Im Herbst 2016 hatte der marokkanische Inlandsgeheimdienst DGST insgesamt vier Mitteilungen an die deutschen Behörden weitergeleitet. Darin hatte man auf verdächtige Aktivitäten des späteren Attentäters vom Breitscheidplatz hingewiesen. Und obwohl der Zeuge Robin O’Debie, der Verbindungsbeamte des BKA in Rabat bei dem die Hinweise eingegangen waren, den Informationsaustausch mit den marokkanischen Behörden als „herausragend“ lobte („Sehr gute Kooperation gerade im Bereich des Terrorismus“) und darauf hinwies, dass die Marokkaner „immer sehr werthaltige Informationen lieferten“, war diesen Mitteilungen in Deutschland offenbar nicht nachgegangen worden. Zu der Werthaltigkeit der Hinweise auf Amri jedoch wollte der Zeuge sich im öffentlichen Teil der Sitzung trotz mehrfacher Aufforderung durch den Abgeordneten Benjamin Strasser nicht äußern.
Insgesamt 30 Hinweise die im Zusammenhang mit radikalislamischen Aktivitäten standen seien dem Verbindungsbeamten zugeleitet worden. Ganze vier dieser Hinweise hatten sich auf den Tunesier Anis Amri bezogen. Den Angaben des Zeugen zufolge erheben die marokkanischen Dienste üblicherweise bis zu 85 % ihrer Informationen aus öffentlichen Quellen. Auch im Fall Amri habe man personenbezogene Daten aus Profilen sozialer Medien gezogen: „kleine Puzzlestücke die die Marokkaner gesammelt haben um sie uns zur Verfügung zu stellen.“
Allein aufgrund dieser fragmentierten Informationen allerdings schien der marokkanische Inlandsgeheimdienst besser über das Gefahrenpotential des radikalislamischen Tunesiers informiert gewesen zu sein als das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst. Oder zumindest aber ließen die marokkanischen Dienste eine Absicht erkennen angemessen auf das Gefahrenpotential des späteren Terroristen reagieren zu wollen.
Denn der Aussage O’Debies zufolge waren die Erkenntnismitteilungen des marokkanischen Inlandgeheimdienstes zeitgleich auch dem Residenten des Bundesnachrichtendienstes in Rabat weitergeleitet worden und landeten schließlich auf dem Schreibtisch des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes.
„Informationen zu Amri wurden auch an den Präsidenten des BND übermittelt.“
Im GTAZ waren die Hinweise des marokkanischen Geheimdienstes dann am 2. November 2016 besprochen worden, wobei vereinbart wurde, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz den Warnungen nachgehen sollte. Aber bis auf eine Anfrage des bei einem Nachrichtendienst der USA blieben die Hinweise des marokkanischen Inlandsnachrichtendiensts für die deutschen Behörden folgenlos. Diese Ereignisse riefen in Marokko immerhin so viel Aufmerksamkeit hervor, dass marokkanische Zeitungen über den Fall berichteten; trotz mehrfacher Warnungen des marokkanischen Inlandsgeheimdienstes hätten die deutschen Behörden nicht reagiert um den in Berlin verübten Terroranschlag zu verhindern.
„Amri wurde als reiner Polizeifall gehandelt –warum wurde dann das Bundesamt für Verfassungsschutz mit einbezogen?“ will die Abgeordnete Dr. Irene Mihalic wissen. „Halten Sie das für schlüssig?“
„Wir gehen mal davon aus, dass das kein reiner Polizeifall war“ antwortet der Zeuge.
Weiterführende Auskünfte zur Bearbeitung der Personalie Amris im GTAZ sollte der Kriminalkommissar Martin Kurzhals ermöglichen. Der allerdings versuchte von Anfang an eine kritische Ausrichtung der Untersuchungen gegenüber den in den Fall Amri involvierten Sicherheitsbehörden abzuwehren: er spricht von einem „Lagekontext“, von „hunderten von Hinweisen“ die in dem fraglichen Zeitraum bei den Behörden eingegangen seien. Die Perspektive, die sich im Verlauf der Untersuchungsausschüsse allerdings herausgebildet hatte, war nicht die Perspektive eines gewöhnlichen Polizeifalls dem nicht mit der gebotenen Sorgfalt nachgegangen worden war, sondern der Fall einer Person, für deren Gefährlichkeit Hinweise verschiedenster Quellen vorgelegen hatten und für die weitläufige nachrichtendienstliche Erkennungsmaßnahmen erfolgt waren. Darüber hinaus hatte man sich intensiv mit der Person des späteren Attentäters befasst und hatte verschiedene Möglichkeiten den radikalislamischen Gefährder über den Rechtsweg „aus dem Verkehr zu ziehen“ nicht genutzt.
Tatsächlich waren es aktive Eingriffe auf die im Vorfeld des Attentats erfolgten Abläufe durch die das Zustandekommen des Terroranschlags erst ermöglicht worden war. Aber diese Fakten werden in der Schilderung des Referatsleiters des BKA nicht berücksichtigt. Kurzhals weist auf die Welle verschiedener radikalislamischer Terroranschläge in Deutschland hin. Dabei hatte der Kriminaldirektor das BKA von 2014 bis 2018 im GTAZ vertreten und zum ersten Mal am 4. Februar 2016 eine von insgesamt sechs Sitzungen moderiert, während derer der Fall Amri thematisiert worden war.
In einer früheren Sitzung konnte ein anderer Zeuge die Frage einer Abgeordneten, ob es im fraglichen Zeitraum denn noch andere Personen eines mit dem von Amri vergleichbaren Gefahrenpotentials gegeben habe, nicht beantworten. Kurzhals jedoch erwähnte am 21. März 2019 den Syrer Dschaber al-Bakr, der angeblich einen Sprengstoffanschlag auf einen Berliner Flughafen geplant hatte, jedoch im Oktober 2016 in Chemnitz festgenommen wurde. Den Aussagen des Kriminaldirektors zufolge hätte man al-Bakr zu diesem Zeitpunkt als wesentlich gefährlicher eingestuft als Amri. Diese Aussage erklärt allerdings weder die zahlreichen operativen Inkohärenzen im Fall Amri noch die Tatsache, warum man dem späteren Attentäter scheinbar strafrechtliche Immunität eingeräumt hatte und von einer strafrechtlichen Verfolgung abgesehen worden war.
Am 26. Januar 2016 hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz in einem Behördenzeugnis Informationen zusammengefasst, denen zufolge Amri Anschläge mit Schnellfeuerwaffen geplant hatte. Ab Februar hätte man das Gefahrenpotential des Terroristen dann aber zunehmend niedriger eingeschätzt. Die Personalie des späteren Attentäters, so hat es den Anschein, sei dann nur noch so nebenher gelaufen. Wie die im GTAZ vertretenen Behörden tatsächlich mit der Personalie Amri umgegangen waren lässt sich im Nachhinein nur schwer rekonstruieren.
„Wir hatten den Eindruck, dass die Protokolle des GTAZ nicht allzu aussagekräftig waren“ stellte der Abgeordnete Klaus-Dieter Gröhler fest. Auch spricht er den Zeugen auf die frühere Aussage einer Zeugin des Bundesamtes für Verfassungsschutz an –deren Aussage habe wenig zur Aufklärung des Falls beigetragen. „Ich kenne die Kollegin Frau M.“ sagt der Zeuge. Aber ihre Position würde ihr sicher nicht ermöglichen, etwas zu den inhaltlichen Abläufen der Sitzungen des GTAZ beizutragen, ergänzt er. Die Zeugin hatte sich im Vorfeld der Zeugenladung als für den Sachverhalt kompetente Ansprechpartnerin vorgestellt und war dem Ausschuss als solche vorgeführt worden. Während ihrer Aussage hatte die Zeugin die inhaltlichen Fragen zum Fall Amri und die Bearbeitung dessen Personalakte im GTAZ aufgrund ihrer mangelhaften Kenntnisse des Sachverhalts nicht beantworten können und ihre vorab gemachten Angaben, dass sie eine für den Sachverhalt kompetente Ansprechpartnerin, die für den Sachverhalt kompetente Mitarbeiterin des Bundesamtes sei korregiert. Ihr Aufgabenbereich sei eher ein organisatorischer, dazu gehöre die logistische Vorbereitung der Sitzungen des GTAZ -mitunter die Verteilung von Sitzkärtchen wie die Zeugin in der Anhörung mitteilt. Obwohl davon auszugehen ist, dass die Zeugin während ihrer Aussage wahrheitsgemäße Angaben machte, war die parlamentarische Öffentlichkeit bei der Ausrichtung der am 31.1.2019 gehaltenen Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses durch das Bundesamt für Verfassungsschutz vorsätzlich getäuscht worden. Denn durch die Anhörung der Zeugin konnten keine für den Untersuchungssachverhalt relevanten Erkenntnisse gewonnen werden.
Am Rande der 45. Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses spreche ich den Abgeordneten der Grünen-Fraktion Dr. Konstantin von Notz an. Dabei bemängelte ich den Ausschluss der Öffentlichkeit von wesentlichen Bereichen der Untersuchungsprozesse. Er, ein Mitglied des Ausschusses der während der Anhörungen normalerweise eine klare Linie fährt, spricht vom „Vertrauen in unsere Behörden“ das man nicht verlieren dürfe. Aufgrund des Verlaufs der Untersuchungsprozesse und den darin gewonnenen Erkenntnissen, antworte ich dem Abgeordneten, sei mein Vertrauen in viele der in den Fall Amri involvierten Behörden grundsätzlich begrenzt.Wer nichts zu verstecken habe sollte ein Mindestmaß an Transparenz erbringen -immerhin finanzieren sich diese Behörden durch deutsche Steuern und das Interesse an der „lückenlosen“ Aufklärung im Fall Terroranschlag Breitscheidplatz liegt im unbedingten Interesse der Öffentlichkeit. Um es mit dem impliziten Grundsatz des Bundesamtes auszudrücken: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die Verläufe der Sitzungen erwecken allerdings den Eindruck, dass diese Kontrolle einseitig durch die Nachrichtendienste ausgeübt wird -selbst wenn eine Reihe konkreter Indizien auf schwerwiegende Missstände in behördlichen Bereichen vorliegen und durch die parlamentarischen Ermittlungen keine konkrete Gefährdung operativer Maßnahmen ausgeht. Mit anderen Worten: das wiederholt zur Geltung gebrachte Interesse an Geheimhaltung der mit dem Staatsschutz beauftragten Sicherheitsbehörden ist durch sicherheitsgebundene Präventivmaßnahmen nicht zu begründen.
Kurze Zeit später dann wiederspricht Dr. von Notz dem Einwand eines anwesenden Beamten des Bundesministerium des Innern, die Beantwortung einer an den Zeugen gerichteten Frage auf den nichtöffentlichen Teil der Sitzung zu verschieben „in dubio pro Öffentlichkeit“ sagt der Abgeordnete und erwirkt die Beantwortung der Frage.