Während der zweiten Hälfte der 47. Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses Terroranschlag Breitscheidplatz sagte ein Kriminalkommissar des Bundeskriminalamtes aus.
Im Vorfeld der Anhörung gibt der Zeuge Dr. Dominik Glorius an, während des Anschlags “mit einer Angina im Sofa gelegen” zu haben –dabei war er erst am 23.12.2016 aus dem krankheitsbedingten Ausfall an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt und hatte anschließend die auf den Terroranschlag folgenden Ermittlungen des Bundeskriminalamtes geführt.
Thematischer Schwerpunkt der Vernehmung des Kriminalkommissars des BKA war die Abschiebung des möglichen Mittäters des auf dem Berliner Breitscheidplatz verübten Terroranschlags. Anfang 2017 war dieser durch ein beschleunigtes Verfahren nach Tunesien abgeschoben worden. Nachdem Bilal Ben-Ammar dort eine langjährige Haftstrafe hatte antreten sollen, war der gebürtige Tunesier aus bislang ungeklärten Gründen nach wenigen Tagen wieder aus der Haft entlassen worden und daraufhin untergetaucht. Die Bundesregierung teilte mit, dass der aktuelle Aufenthaltsort Ben-Ammars den Behörden seither nicht bekannt ist.
Wiederholt wehrte der Zeuge Fragen mit der Begründung ab, dass sie zu detailliert wären, dabei spricht er von „Detailfragen“. Diese hatten allerdings inhaltliche Relevanz. Zunächst gab der Zeuge an, dass eine Beihilfe zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz „technisch nicht möglich“ gewesen sei. Nachdem diese Aussage aber durch konkrete Ausführungen verschiedener Abgeordneter wiederlegt worden war, räumte der Beamte ein, dass eine Beihilfe des Ben-Ammar zum Terroranschlag weder ausgeschlossen noch bestätigt werden könne.
Weiterhin versuchte der Zeuge inhaltliche Inkohärenzen der in seiner Aussage geschilderten Abläufe durch Meinungsäußerungen zu erklären -dennoch wurden die durch den Zeugen gemachten Angaben von den Abgeordneten wiederholt mit Äußerungen wie „ungewöhnlich“ oder „nicht nachvollziehbar“ kommentiert.
Die Aussage des Zeugen war während der Sitzung durch mehrere Abgeordnete fachlich und anhand konkreter Ausführungen wiederlegt worden.
- Der im Fall Terroranschlag Breitscheidplatz „wichtige Zeuge“ Ben-Ammar war innerhalb weniger Wochen nach dem Anschlag am 1. Februar 2017 durch das BKA direkt aus der Untersuchungshaft heraus abgeschoben Dies war geschehen ohne die Auswertung der für den Fall relevanten Ermittlungsdaten abgewartet zu haben. Der Abgeordnete Detlef Seif befragt den Zeugen zu einem Aktenvermerk im Vorgang Ben-Ammar demzufolge die Handydaten des Terrorverdächtigen ausgewertet worden waren: „Ist es denn normal, dass man nach wenigen Tagen die Abschiebung anordnet und nicht erst mal die Auswertung der Daten abwartet?“
- Ben-Ammar war während eines laufenden Verfahrens, das im fraglichen Zeitraum zur Bewährung ausgesetzt war, abgeschoben worden. Während der Sitzung wurde mitgeteilt, dass die Staatsanwaltschaft Berlin dem BKA in Aussicht gestellt hatte, die zum damaligen Zeitpunkt zur Bewährung ausgesetzte 7-monatige Freiheitsstrafe mit sofortiger Wirkung anzuordnen –der Zeuge bestritt dies (während eines Telefonats mit einem Sachverständigen konnte ich diesen Sachverhalt bislang nicht bestätigen lassen, der wissenschaftliche Mitarbeiter wies mich jedoch darauf hin, dass dieser Sachverhalt weiterführend geprüft wird).
- Dennoch gibt der Zeuge Glorius an, dass man Ben-Ammar „nichts habe nachweisen können“ und der Terrorverdächtige daher hatte abgeschoben werden sollen. Mittlerweile wurden Fotos des Terrorverdächtigen am Anschlagsort als konkretes Indiz für eine Mittäterschaft Ben-Ammars beim auf dem Breitscheidplatz verübten Terroranschlag anerkannt. Die Fotos zeigten Ben-Ammar auf dem Breitscheidplatz –nebst IS-Symbolen. Der Hauptkommissar Dominik Glorius weist daraufhin, dass der Breitscheidplatz ein „öffentlicher Platz“ sei –womit er offenbar versucht, eine sich durch die Fotos verdeutlichende Vorbereitungsaktivität zum Terroranschlag zu leugnen.
Die Entstehung der Fotos sei unter Ausschließung eines Tatzusammenhangs unerklärlich -da es sich bei dem Entstehungsort der Fotos um den späteren Anschlagsort und nicht um eine „touristische Attraktion“ gehandelt habe wie es aus Abgeordnetenkreisen hieß.
Außerdem gibt der Zeuge an, dass der zum Tatzeitpunkt dreiundzwanzigjährige Tunesier A. AMRI bei Vorbereitung und Ausführung des bislang schwerwiegendsten in der Bundesrepublik verübten Terroranschlags nicht „arbeitsteilig“ hätte vorgehen müssen –infolgedessen habe man auch keine Handhabe gegen BEN-AMMAR gehabt. „Was fehlt ist die Unterstützungshandlung die ich bräuchte“ sagt der Zeuge. Aufgrund dieser und ähnlicher Äußerungen des Zeugen zählen zwei der im Untersuchungsausschuss vertretenen Abgeordneten mindestens ein Duzend Möglichkeiten auf, mit denen eine Beihilfe zu dem auf dem Berliner Breitscheidplatz verübten Terroranschlag hätte geleistet werden können. „Niemand,“ sagt ein Sachverständiger Mitarbeiter des Untersuchungsausschusses später, „hält diese Behauptung für haltbar“.
- Nach dem Anschlag war Bilal Ben-Ammar für zehn Tage „untergetaucht“. Auch dieser Punkt wurde durch die Abgeordneten hinterfragt –denn den Angaben des Zeugen zufolge konnte der Verbleib des möglichen Komplizen des Terroristen vom Breitscheidplatz während dieses Zeitraums bislang nicht rekonstruiert werden. Die Bewegungsdaten A. AMRIS wurden nach dem islamistischen Terroranschlag durch das Federal Bureau of Intelligence bereitgestellt. Die Aktivitäten US-amerikanischer Geheimdienste in der Bundesrepublik und deren Verwicklung in den Fall Terroranschlag Breitscheidplatz blieben bislang weitestgehend ungeklärt. Aufgrund der durch den US-amerikanischen Nachrichtendienst geteilten Informationen habe man „retrograd bis zum 24.9 sehr gut nachvollziehen können, wo sich AMRI bewegt hatte“ sagt der Zeuge Glorius während der Sitzung aus.
- Während individueller Unterredungen mit Abgeordneten der Union und der SPD am Rande der Sitzung wurde mir mitgeteilt, dass das Staatsministerium des Innern in Sachsen, das BKA und die Generalbundesstaatsanwaltschaft die Ausweisung BEN-AMMARs veranlasst beziehungsweise durchgewinkt hatten.
- Den Angaben des Kriminalbeamten zufolge zeigte sich der Tatverdächtige Ben-Ammar während der Vernehmungen wenig beziehungsweise überhaupt nicht kooperativ. Er habe während der insgesamt zwei Vernehmungen gelogen –wobei er sich zunächst als ägyptischer Staatsangehöriger vorgestellt hatte. Dieser Umstand wurde durch Glorius dahingehend ausgelegt, dass eine mögliche Aussage des Zeugen Ben-Ammars wenig „ertragreich“ für die Weiterführung der Untersuchungen im Fall Terroranschlag Breitscheidplatz seien. Dieses Argument jedoch stößt bei den Mitgliedern des Ausschusses auf vehementen Wiederspruch –immerhin sei Ben-Ammar selbst Tatverdächtiger und als solcher sei von ihm keine wahrheitsgemäße Aussage innerhalb einer dreistündigen Vernehmung zu erwarten gewesen. Demzufolge sei das Argument, dass eine Zeugenanhörung Ben-Ammars aufgrund vorsätzlicher Irreführungen in dessen Erstaussagen für den Verlauf der Untersuchungsprozesse nicht zielführend sei, grundlegend von der Hand zu weisen.
- Kurze Zeit nach seiner Rückkehr nach Tunesien wurde Bilal Ben-Ammar durch die tunesischen Behörden inhaftiert. Angesetzt war eine achtjährige Haftstrafe. Grund für die Haftstrafe war eine Verurteilung wegen Terrorismus. Schon nach wenigen Tagen aber sei Ben-Ammar wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Aus dem Kreis der Abgeordneten wurde verlautet, dass dieser Vorgang so ungewöhnlich gewesen sei, dass als Anlass für das Handeln der tunesischen Behörden eine externe Anweisung wahrscheinlich wäre.
- Tatzeugen zufolge hatte AMRI nicht allein im Führerhaus des LKW gesessen. Eine weitere Person sei nachdem der LKW zum Stillstand gekommen sei aus dem Führerhaus gesprungen und habe dem Attentäter vom Breitscheidplatz bei dessen Flucht Rückendeckung geleistet. Dabei sei eine sich am Tatort befindliche männliche Person mit einer Holzlatte niedergeschlagen und schwerverletzt worden. Bei dem Mann handelte es sich um Sascha Hüsges. Er hatte Ersthilfe leisten wollen und war, nachdem der LKW ein paar Meter von ihm zum Stehen gekommen war, in Richtung des Fahrzeugs gerannt. Kurze Zeit später berichtete er, dass ihn etwas „getroffen habe“. Wer oder was genau das war, konnte er nicht mehr mitteilen -denn aufgrund einer starken Hirnblutung liegt Hüsges bis heute im künstlichen Koma in der Schlosspark-Klinik in Charlottenburg.
- Weiterhin zur Sprache kam das Foto einer Person mit „blauen Handschuhen“ die sich am 19. Dezember 2016 am Tatort aufgehalten hatte und offenbar als Ersthelfer präsentiert hatte, bislang nicht identifiziert werden konnte und bei der es sich um Bilal Ben-Ammar gehandelt haben könnte. Zu dieser Möglichkeit habe es innerhalb des Bundeskriminalamtes wiedersprüchliche Aussagen gegeben.
- Der Zeuge gab an, dass der Tatverdächtige zum fraglichen Zeitpunkt über Whatsapp mit seiner Frau (Thema „Kindererziehung“) gechattet habe. Die Abgeordnete Martina Renner weist auf einfachste Manipulationsmöglichkeiten an der Applikation hin (beispielsweise über eine Verstellung der Zeitzone) –eine entsprechende Möglichkeit aber sei durch das BKA nicht überprüft worden.
- Thematisiert wird während der Sitzung auch ein bislang nicht identifizierter „spirituelle Führer“ des Terroristen A. AMRI. Der Mentor, der ein Vertreter des Islamischen Staats gewesen sei, habe sich online als MOMO1 präsentiert und den späteren Terroristen angewiesen. In diesem Zusammenhang hatte AMRI auch eine pdf. mit Anweisungen für Märtyrer erhalten.
- Weiterhin sprach Martina Renner den „Waffenweg“ der von Amri gebrauchten Tatwaffe an (der Waffenweg sei im Übrigen derselbe gewesen wie der der im NSU-Komplex eingesetzten Tatwaffe) –hergestellt in den 90-Jahren in der Schweiz, gebraucht im Jugoslawien-Konflikt und vermutlich von Söldnern nach Deutschland geschleust).
- An der Tatwaffe waren 3 verschiedene DNA-Spuren sichergestellt worden –unter anderem die des polnischen LKA-Fahrers –was die Spurensicherung der Aussage Glorius zufolge darauf zurückführte, dass der Fahrer aus nächster Nähe erschossen worden war (er habe sich bei dem Überfall auf die Sitze im Kabinenhäuschen ausgestreckt einen Film auf seinem Laptop angesehen). Die andere DNA-Spur stammte von einem ehemaligen Mitbewohner des Attentäters –vermutlich seien sie von anderen durch den Mann genutzten Gegenstände auf die Waffe übergegangen ohne dass dieser die Waffe direkt berührt hatte.
- Auch ein Handy welches in Italien bei AMRI sichergestellt worden war wird angesprochen. „Man hat damals kein Handy gefunden“ wiederspricht der Zeuge. „Wenn ich Ihnen jetzt sage, dass ich Unterlagen habe die belegen, dass in Mailand ein Handy gefunden worden war“ antwortet die Abgeordnete Renner. „Gab es ein Handy –das durch die Polizei dort festgestellt wurde –und was ist mit dem Handy passiert?“ fragt sie weiter. Relevant wäre das Handy für die lückenlose Rekonstruktion des Fluchtwegs und die auf dem Handy sichergestellten Daten. Aber zu derartigen „Detailfragen“ kann oder will der Zeuge während der Sitzung keine Angaben machen.
- Über einen Bildschirm präsentiert Irene Mihalic den Fluchtweg des Attentäters.
Hervorzuheben war bei dieser Sitzung, dass die Abgeordneten einvernehmlich und fraktionsübergreifend systematisch die Angaben des Zeugen hinterfragten. Die sich ansonsten bedeckt haltende Abgeordnete Beatrix von Storch stellte juristisch versierte Fragen und wiederlegte auf diese Weise die Angaben des BKA-Beamten (der die Abgeordnete während seiner Antworten namentlich ansprach, was während der Sitzungen eher ungewöhnlich ist), der während seiner Aussage behauptet hatte, dass eine Beihilfe zu dem auf dem Breitscheidplatz verübten Terroranschlag „technisch nicht möglich“ gewesen sei. Auch der Unions-Abgeordnete Detlef Seif hatte die Angaben des Zeugen durch juristische Argumentationen wiederlegen können und (wie auch Beatrix von Storch) konkrete Beispiele genannt anhand derer eine Strafanzeige gegen den mit so unerklärlicher Dringlichkeit abgeschobenen Tatverdächtigen Bilal Ben-Ammar möglich gewesen wäre.