Während der 67. Sitzung des Untersuchungsausschusses „Terroranschlag Breitscheidplatz“ sollte erneut die Unterbindung des Ausreiseversuchs des späteren Terroristen aufgearbeitet werden. Außerdem sollte am 7. November 2019 während dieser Sitzung die Aktenmanipulation im Berliner Landeskriminalamt untersucht werden. Dazu wurde zunächst eine Kriminaloberkommissarin des Berliner Landeskriminalamts befragt. Die damals 35-jährige Beamtin hatte im Rahmen ihrer Ausbildung im April 2016 im für die Abwehr radikalislamischer Bestrebungen zuständigen Staatsschutz-Kommissariat 541 angefangen. Das Kommissariat 541 ist der Abteilung 5 „Polizeilicher Staatsschutz“ des Berliner Landeskriminalamts untergeordnet. Der Polizeiliche Staatsschutz ist für die Bekämpfung politisch und religiös motivierter Straftaten zuständig, darunter auch der Phänomenbereich Islamistischer Terrorismus.
Die Beamtin hatte im Sommer und Herbst 2016 den gewerbsmäßigen Drogenhandel Anis Amris untersucht und Anfang November desselben Jahres einen zusammenfassenden Bericht verfasst in dem in einem 10 Seiten umfassenden Vermerk auf einen „banden- und gewerbsmäßigen“ Drogenhandel des späteren Attentäters hingewiesen worden war. Wäre der Bericht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden, wäre aufgrund des Vermerks eine juristische Voraussetzung geschaffen worden um einen Haftbefehl gegen den späteren Attentäter erlassen zu können.
Der spätere Attentäter hätte mit einer zielführenden Verwendung dieses Berichts strafrechtlich belangt und bis zu seiner Abschiebung inhaftiert werden können. Aber aus bislang ungeklärten Gründen waren Bericht und Vermerk erst wieder aufgetaucht, nachdem der Terroranschlag in Berlin verübt worden war.
So sagt die Zeugin vor dem Untersuchungsausschuss aus, dass sie damals „aus allen Wolken gefallen“ nachdem sie realisiert hatte, dass ihr Bericht folgenlos geblieben war. Auch ihre Kollegen haben der von ihr gewählte Formulierung fachlich zugestimmt und den von Anis Amri betriebenen Drogenhandel als gewerbs- beziehungsweise bandenmäßig eingestuft sagt die Zeugin aus. Der Aussage der Zeugin zufolge war der Bericht am 1. November 2016 verdokumentiert worden.
Auf der Grundlage dieses Berichtes sollte der damalige Vorgesetzte der Zeugin, Kriminaloberkommissar L., eine Strafanzeige formulieren. Eingeleitet wurde dieser Schritt allerdings erst, nachdem Anis Amri den bislang schwersten in der Bundesrepublik verübten Terroranschlag ausgeführt hatte. Der Sachverhalt um den „umfassenden und schwerwiegenden Bericht, der offensichtlich nicht zur Staatsanwaltschaft gelangt ist wie er es sollte“ wie es ein Abgeordneter formuliert hatte, konnte während der 67. Sitzung nicht geklärt werden.
Der Vorgang war am 19. Januar 2019 nachträglich und in einer entschärften und verkürzten Fassung an die Berliner Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden. In diesem Bericht wurde der Rauschgifthandel des späteren Terroristen nicht mehr als „banden- und gewerbsmäßig“ beschrieben: in der späteren Fassung wurde Amri als ein Gelegenheitsdealer dargestellt. Auf dieser Grundlage wären die Erfolgsaussichten einer herkömmlichen Strafverfolgung Amris fraglich geblieben. Der Sonderermittler des Berliner Senats hatte die Änderungen im Bericht der Kriminaloberkommissarin als Vertuschungsversuch gewertet.
Auf die Frage des Abgeordneten Özdemir gibt die Zeugin an, dass es „überhaupt nicht schwer“ gewesen sei einen „hochmobilen Gefährder“ zu observieren. Im Gegensatz zu ihren Kollegen in NRW sei die Zeugin aber zu der Einschätzung gelangt, dass Amri nicht mehr als Gefährder einer gesteigerten Priorisierung einzuschätzen gewesen sei. Eine Analyse von Täterstrukturen habe die Zeugin als Berufsanfängerin dabei allerdings nicht vorgenommen.
Weiterhin hatte die Zeugin aus bislang ungeklärten Gründen am Vormittag des 19. Dezember 2016 eine Abfrage zu dem wenige Stunden später als Attentäter des Berliner Breitscheidplatz in Erscheinung tretenden Amri im Polizeilichen Informationsregister POLIKS (Polizeiliches Landesregister zur Information, Kommunikation und Sachbearbeitung) getätigt.
POLIKS war nach einer fünf-jährigen Entwicklungszeit und Produktionskosten von 73 Millionen Euro bereits Anfang 2005 in Betrieb genommen worden und dient der Berliner Polizei seitdem als Informations-und Kommunikationsschnittstelle zwischen Land und Bund. Eingerichtet worden war POLIKS mit der Zielsetzung, eine verbesserte Koordinierung der Aufnahme und Bearbeitung von Anzeigen zu schaffen.
Vernetzt ist das Datenverarbeitungssystem unter anderem mit dem Auskunftssystem der Berliner Staatsanwaltschaft, dem Ausländerzentralregister und INPOL des BKA. Darüber hinaus ermöglicht POLIKS den Zugriff internationale Datenbanken wie das Schengener Informationssystem (SIS). Seit der Einführung von SIS II am 9. April 2013 werden im Schengener Informationssystem biometrische Daten verwendet. Durch das internationale Informationssystem werden die Datenbanken nationaler Behörden in Echtzeit aktualisiert.
Quellen:
- Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses ‚Terroranschlag Breitscheidplatz‘ am 7. November 2019, Paul-Löbe-Haus, Europasaal (4.900), Deutscher Bundestag
Der Polizeipräsident in Berlin, Dienststellen, Landeskriminalamt, LKA 5 –Polizeilicher Staatsschutz, aufgerufen am 10.11.2019: https://www.berlin.de/polizei/dienststellen/landeskriminalamt/lka-5/
heise online: Berliner Polizei mit neuem IT-System auf Verbrecherjagd, veröffentlicht am 31.3.2005 (aufgerufen am 11.10.2019): https://www.heise.de/newsticker/meldung/Berliner-Polizei-mit-neuem-IT-System-auf-Verbrecherjagd-149258.html
Der Polizeipräsident in Berlin, Abteilung Informations- und Kommunikationstechnik (aufgerufen am 11.10.2019): https://www.berlin.de/polizei/dienststellen/direktion-zentraler-service/informations-und-kommunikationstechnik/