Während dieser Sitzung wurde der zentralen Frage nachgegangen, ob das Bundeskriminalamt vorsätzlich Ermittlungsarbeiten auf Landesebene behindert hat, um eine Verortung der durch den Islamisten Anis Amri ausgehenden Gefahrenlage zu unterbinden und den späteren Terroristen durch ein Netz operativer Maßnahmen zu schleusen.
Vor allem die Person des polizeilichen Informanten „VP01“ hatte in diesen Zusammenhängen eine wichtige Rolle gespielt: während der Ermittlungen hatte der Informant mit Nachdruck auf das durch den Gefährder ausgehende Sicherheitsrisiko hingewiesen. Die den Informanten führende Behörde, das nordrheinwestfälische Landeskriminalamt, hatte diese Einschätzung der durch den tunesischen Islamisten ausgehenden Gefahrenlage an das Bundeskriminalamt weitergeleitet. Auch war in diesem Zusammenhang ein Übernahmeantrag an die Bundesbehörde gestellt worden. Dort allerdings hatte man eine operative Übernahme zum Sachverhalt Amri abgelehnt und diese Haltung unter anderem mit Zweifeln an der Glaubhaftigkeit der Quelle VP01 begründet. Das laufende Ermittlungsverfahren des nordrheinwestfälischen Staatsschutzes sei dadurch durch das BKA „torpediert“ worden, wie es einige Vertreter des Untersuchungsausschusses ausdrückten.
Einem Zeugen zufolge hatte es zum Vorgang der Desavouierung des polizeilichen Informanten aber explizite Anweisungen aus höchster Ebene gegeben: nach einer Besprechung bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe sei der Erste Kriminaloberkommissar Philipp Klein des BKA im Rahmen eines Vieraugengespräches an den Kriminaloberkommissar M. des nordrheinwestfälischen LKA herangetreten und habe diesen darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Informant VP01 durch das BKA „aus dem Spiel genommen“ werden solle. Diese operative Maßnahme gehe aus Anweisungen „von ganz oben“ hervor: ein ranghoher Beamter des BKA und der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière selbst hätten eine entsprechende Handhabung des polizeilichen Informanten angewiesen.
Durch diesen Vorgang alarmiert hatte sich der Kriminaloberkommissar direkt nach dem Gespräch mit Klein an seine Kollegen und darüber hinaus an Vertreter der Generalbundesanwaltschaft gewandt. Auch hatte der Beamte sich detaillierte handschriftliche Notizen zu dem Vorfall gemacht. Dabei habe er seine Kollegen und die Oberstaatsanwälte über den Verlauf des Vieraugengespräches mit Klein informiert. Klein selbst hatte die Aussage des Beamten des Landeskriminalamts am 12. Dezember 2019 öffentlich dementiert. Allerdings bestätigten inzwischen sowohl die Oberstaatsanwälte der Generalstaatsanwaltschaft Dieter Killmer und dessen Kollegin Claudia Gorf, dass sie von Kriminaloberkommissar M. über das Vieraugengespräch mit Klein in Kenntnis gesetzt worden waren. „Für mich gibt es keinen Zweifel, dass dieses Vieraugengespräch stattgefunden hat“ sagt die Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof Gorf am 16. Januar 2020 vor dem Untersuchungsausschuss aus.
Die Oberstaatsanwältin beschreibt den Kontakt zwischen ihr und dem nordrheinwestfälischen Kriminalkommissar als „regelmäßig und vertrauensvoll“ und führt aus „überhaupt keine Zweifel“ an dessen Glaubwürdigkeit zu haben. Auch die Vertrauensperson 01 habe der Oberstaatsanwältin zufolge „sehr zuverlässig berichtet“ und gelte darüber hinaus als „außergewöhnlich gute Quelle“, deren Informationen der Bundesgerichtshof schon in eigenen Strafverfahren genutzt hatte. „Warum hätte man denn dieser Person falsche Dinge erzählen sollen?“ fragt Gorf fassungslos.
Auch der nächste Zeuge, der Kriminaldirektor W., der damalige stellvertretende Leiter des Staatsschutz-Dezernats 21 des nordrhein-westfälischen LKA, bestätigt die Glaubwürdigkeit des Kriminaloberkommissars M. und sagt aus, dass dieser auch ihn von dem Vieraugengespräch mit dem BKA-Beamten informiert hatte. Dabei sei M. von Klein in Kenntnis gesetzt worden, dass man die Vertrauensperson 01 des nordrheinwestfälischen LKA im Bundeskriminalamt „kaputtschreiben“, also desavouieren wollte, um so eine ermittlungsrelevante und zugleich politische Grundlage zu schaffen, um sämtliche der durch die Vertrauensperson gewonnenen Informationen unter den Tisch fallen lassen zu können. Bei der Wiedergabe des Gesprächsinhalts habe der Kollege M. für seine Verhältnisse „sehr emotional“ gewirkt. Während seiner weiteren Ausführungen gibt der nordrheinwestfälische Kriminaldirektor außerdem an, dass er selbst die Einstufung unterschrieben hatte, mit der Anis Amri am 17. Februar 2016 bundesweit als Gefährder kategorisiert worden war. Der Zeuge sagt aus, dass man beim LKA NRW davon überzeugt gewesen sei, dass durch Anis Amri eine dauerhafte und „hohe abstrakte Gefahr“ ausging.
Wichtig ist dieser Aspekt deshalb, weil der Erste Kriminaloberkommissar Klein des BKA ausgesagt hatte, dass man den Sachverhalt Amri in seiner Behörde darum nicht mehr als „prioritär“ gehandelt habe, weil die Eintrittswahrscheinlichkeit dreier konkreter Gefahrenszenarios als gering eingestuft worden waren. Und da eben diese Anschlagsszenarien nicht eingetreten seien, habe man der Auslegung Kleins zufolge auch mit der Gesamtgefährdungsbewertung des BKA im Fall Amri grundsätzlich nicht falsch gelegen. Hätte das BKA jedoch die Erkenntnislage laufender Ermittlungen anerkannt, hätte die Bundesbehörde in der Pflicht gestanden dem Übernahmeersuchen des nordrheinwestfälischen LKA stattzugeben und den Fall Amri mit dem gebotenen Aufgebot operativer Maßnahmen weiterzuverfolgen.
Hätte das BKA die begründete Auffassung des LKA NRW geteilt, dass durch Amri eine „hohe abstrakte Gefahr“ ausging, hätte Amri weiterhin oberserviert werden müssen und der Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz wäre durch Maßnahmen des präventiven Staatsschutzes verhindert worden. Die Frage, warum eine solche Steuerung im Fall Amri ausblieb, bleibt weiterhin offen.
Autorin: Sarah Körfer
- Sitzung des UA ‚Terroranschlag Breitscheidplatz‘, Deutscher Bundestag, 16. Januar 2020