In den Dunstkreis der Ungereimtheiten, Wiedersprüche und Zufälle, die den bislang schwersten in der Bundesrepublik Deutschland verübten Terroranschlag begleiten, fügt sich auch die Haltung von Horst-Rüdiger Salzmann. Der Bundesanwalt hatte bereits am 2. Juli 2020 vor dem bundesparlamentarischen Untersuchungsausschusses ausgesagt und wurde erneut als Zeuge geladen für die erste Sitzung des Untersuchungsausschusses nach der Sommerpause die am 10. September 2020 stattfinden wird.
Bei seiner Aussage Anfang Juli hatte Salzmann eine linienförmige Haltung mit Bezug auf die Einzeltäterthese vertreten: entgegen sich verdichtender Indizien, die einen Alleingang und sogar die unmittelbare Täterschaft des im Zusammenhang mit dem auf dem Berliner Breitscheidplatz verübten Terroranschlag bislang als Einzeltäter gehandelten Anis Amri immer offenkundiger zu widerlegen scheinen, hält Salzmann an einer rigorosen Eingrenzung der Täterschaft auf den Tunesier fest.
Die Konsequenz der Eingrenzung einer Täterschaft auf den vier Tage nach dem Terroranschlag in Mailand erschossenen Amri war die Einstellung des polizeilichen Ermittlungsverfahrens gegen den als Attentäter erklärten Tunesier.
Ein Ermittlungsverfahren gegen einen mutmaßlichen Straftäter kann nach dessen Exitus nicht fortgeführt werden. Die Eingrenzung der Urheberschaft des bislang schwersten in der Bundesrepublik Deutschland ausgeführten Attentats auf einen toten Einzeltäter verhinderte bislang weiterführende Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft gegen den oder die Urheber des in Berlin verübten Terroranschlags.
Auch eine kontinuierliche mediale Berichterstattung zu den Ermittlungen um das Anschlagsgeschehen hätte durch ein Eingrenzen der Urheberschaft des Attentats auf einen „Gelegenheitstäter“ unterbunden werden können. Wären da nicht die Auffälligkeiten, die Störungen im Muster eines Anschlagsgeschehens, dass so, wie es präsentiert werden soll, nicht zusammenpassen will.
Andererseits war während der nach dem Terroranschlag eingesetzten parlamentarischen Untersuchungen mehrfach darauf hingewiesen worden, dass sich der Terrorverdacht gegen den Tunesier im Vorfeld des Attentats nicht hinreichend habe erhärten lassen um den mutmaßlichen Attentäter aufhalten zu können.
Dabei war bereits im Januar 2016 ein Behördenzeugnis durch das Bundesamt für Verfassungsschutz zur Person des als gefährlich eingestuften Amri ausgestellt worden –unterschrieben worden war die behördliche Urkunde durch den damaligen Präsidenten der Behörde selbst, Hans-Georg Maaßen. Das Dokument enthielt eine Mitteilung, der zufolge Amri offensiv versucht habe „Personen als Beteiligte an islamistisch motivierten Anschlägen im Bundesgebiet zu gewinnen.“ Für eine Anklage verwendet worden war das aufwendig zusammenermittelte Material jedoch nicht.
Auf dessen Grundlage jedoch hätte Amri durch Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) tatsächlich verurteilt werden können –das Strafmaß wäre mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren anzusetzen gewesen. In diesen Zusammenhängen wäre Amri in einem Strafverfahren die Rolle eines Rädelführers beizumessen gewesen –ein Umstand, der das Strafmaß maßgeblich erhöht hätte und den Behörden genug Zeit verschafft hätte, um die Passersatzpapiere des Straftäters aus Tunesien zu beschaffen.
Denn im Gegensatz zu einer Strafverfolgung auf Grundlage des in diesen Zusammenhängen regelmäßig aufgeführten § 89a Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, ist der bloße Versuch strafbar, eine Vereinigung deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist zu bilden oder sich an einer solchen als Mitglied zu beteiligen.
Aber auch die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat hätte sich im Vorfeld des Attentats rechtskräftig belegen lassen. Die dafür notwendigen Beweise wurden allerdings erst nach dem Anschlag weitergeleitet –obwohl die Datenträger mit Fotos, auf denen Amri mit einer Waffe posierte, bereits am 18. Februar 2016 sichergestellt worden waren.
Das Bundeskriminalamt hatte eine Kopie der Daten erstellt –ausgewertet wurden diese allerdings erst nach dem Terroranschlag. Erklärt wurde diese weitere Auffälligkeit der Ermittlungsvorgänge vor dem bundesparlamentarischen Untersuchungsausschuss damit, dass die dafür erforderliche Technik der Bundessicherheitsbehörde erst ein Jahr nach dem Terroranschlag zur Verfügung gestanden habe.
Ob das Bundeskriminalamt als federführende Behörde der Neutralitätsanforderung einer Aufklärung eigener Verfahrensmängel gewachsen ist, konnte in den Ermittlungsarbeiten der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „City“ bislang nicht bestätigt werden.
Die engmaschige internationale Vernetzung von mit dem Phänomenbereich Staatsschutz beauftragten Behördenbereichen stellt auch infrage, warum Anis Amri nicht mit ausländerrechtlichen Maßnahmen in sein Herkunftsland ausgewiesen worden war. Tunesische Behörden hatten italienischen Behörden bereits 2011 eine beglaubigte Abschrift der Geburtsurkunde Anis Amris auf dem Dienstweg überstellt. Damit war Anis Amris Identität fünf Jahre vor dem Attentat festgestellt worden.
Durch die internationale Vernetzung und eine zunehmende Zentralisierung von Kompetenzen und Weisungsrechten innerhalb staatlicher Sicherheitsarchitekturen stellen mit dem Phänomenbereich Terrorismus beauftragte Behördenzweige ein sich entwickelndes innenpolitisches Risiko für die Autonomie völkerrechtlich unabhängiger Staaten und deren demokratischer Systeme dar.
Der in Zusammenhängen der Terrorismusbekämpfung geltend gemachte Anspruch auf Geheimhaltung und die regelmäßige Anwendung der Third Party Rule setzt den Zugriff autonomer staatlicher Kontrollinstanzen auf Drittstaaten zugehörigen mit dem Staatsschutz beauftragten Behörden und deren Zusammenschlüsse weitgehend außer Kraft.