Die Identität des Zeugen ist geheim. Wie alle anderen bisher in diesen Untersuchungsprozessen geladenen Zeugen sitzt er am hinteren Ende des Saals gegenüber dem Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses „Terroranschlag Breitscheidplatz“. Direkt neben ihm sitzt sein Anwalt, ein älterer Mann der eine Brille mit einem sehr feinen, goldmelierten Rahmen trägt und der den Eindruck der fast jugendlichen Erscheinung des Zeugen noch zu bekräftigen scheint. Der Verlauf der 13. Sitzung des Untersuchungsausschusses „Terroranschlag Breitscheidplatz“ beginnt erwartungsgemäß unspektakulär.
Anfänglich drehen sich die Fragen um Einzelheiten der Überwachungsmaßnahmen im Fall Amri. Auf die Frage, ob zur Unterstützung der Observierungsmaßnahmen technische Hilfsmittel eingesetzt worden waren, gibt der Zeuge an, sich nicht sicher zu sein. Auch auf die Frage nach der rechtlichen Grundlage zu eventuell ausgeführten Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen kann sich der Zeuge, der sich vor den meisten seiner Antworten von seinem Anwalt beraten lässt, nicht äußern und kann sich im Verlauf der Sitzung auch daran nicht erinnern, ob eine formelle Inhaftierung Amri’s „überhaupt angedacht worden sei.“ [1]
„Wir haben uns gewundert, dass es nicht ging, Amri aus der Öffentlichkeit zu entfernen, haben es aber so hingenommen.“
Weiter spricht der Zeuge vom Verfahren „Ventum“ innerhalb dessen man sich während der polizeilichen und nachrichtendienstlichen Ermittlungen mit Amri auseinandergesetzt hatte. Das Ermittlungsverfahren „Ventum“ war im Rahmen eines Terrorabwehrprogramms eingesetzt worden. Viel kann oder will der Zeuge zu dem Verfahren jedoch nicht sagen, da er sich bei den meisten seiner Antworten auf seinen Status als Geheimnisträger beruft oder angibt sich nicht mehr an die anderthalb Jahre zurückliegenden Abläufe vor dem Terroranschlag erinnern zu können.
Während eines nicht öffentlichen Abschnittes der Sitzung unterhalte ich mich im Flur des Abgeordnetenhauses mit einem Journalisten des öffentlichen Fernsehens. Er teilt mir mit, dass er vor einigen Wochen eines der Opfer in einem Bezirk nördlich von Tel Aviv aufgesucht hatte. Dabei handelte es sich um den Witwer der bei dem Anschlag ums Leben gekommenen Dalia Elyakim. Auf seinem Smartphone zeigt er mir ein Foto des Mannes der auf Krücken gestützt vor dem Grab seiner Frau steht. Dann zeigt er mir ein Video das den Terroranschlag zeigt. Ich erkundige mich, woher diese Aufnahmen stammen. Seine Quellen kann mir der Journalist nicht nennen. Allerdings sagt er mir, dass er gute Kontakte beim Berliner LKA habe. Beim Berliner LKA gäbe es „Einige“, die über den Fall Amri und die vermeintliche Rolle des Berliner LKA in diesen Zusammenhängen verärgert wären und die ihm unter der Hand Informationen zugetragen hätten. [2]
„Können Sie sagen, warum die Observationsergebnisse aus NRW vom LKA Berlin nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet wurden?“ befragt Hakan Taş den Zeugen kurze Zeit später.
„Dazu kann ich nichts sagen.“
Weiter erkundigt sich der Abgeordnete nach dem ungeklärten Verbleib von fünf Aktenordnern und danach, dass bestimmte Aktenbestände möglicherweise abhanden gekommen wären. Die Antwort auf diese Fragen fällt jedoch jedes Mal gleich aus; der Zeuge kann sich zu den an ihn gerichteten Fragen nicht äußern. Während einer kurzen Pause während der wir vor dem Abgeordnetenhaus stehen erkundige ich mich bei dem Ausschussreferenten der Linksfraktion woher Hakan Taş seine Informationen hinsichtlich der verschwundenen Aktenordner bezogen hat. Wie mir der Ausschussreferent mitteilt sind es geheime Quellen. Weitere Angaben will er nicht machen: „Wenn ich dir zu viel erzähle gehe ich in den Knast.“
Kurze Zeit später kehren wir in den Sitzungssaal zurück. „Woran konnten Sie erkennen, dass Amri religiös war?“ erkundigt sich der AfD-Abgeordnete Karsten Woldeit. Der Zeuge verweist auf Berichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
„Unter welchen Voraussetzungen werden persönliche Gespräche mit Gefährdern geführt?“ erkundigt sich Benedikt Lux als die Grünen das Wort führen. Hierüber gibt der Zeuge keine Auskunft. Die nächste Frage bezieht sich darauf, wann konkret Gefährderansprachen geführt werden.
„Ansprachen wie ‚man hat Sie im Visier‘ –die gab es.“
„Ja“ antwortet der Zeuge.
„Wurde Amri angesprochen?“
„Im Fall Amri wurde eine Gefährderansprache durchgeführt. Amri wurde angesprochen.“ Wenig später wird die Befragung des ersten Zeugen plangemäß beendet.
[1] Diese Antwort hatte der Zeuge auf die Frage des Abgeordneten der SPD-Fraktion Frank Zimmermann gegeben: „Welche Anregungen haben Sie zur Inhaftierung Amris formuliert?“
[2] Der von öffentlicher Seite regelmäßig erfolgte Versuch einer Eingrenzung der Verantwortlichkeiten auf gesetzliche Zuständigkeiten und entsprechende Versäumnisse der Kriminalämter der Länder Berlin und Nordrhein-Westfalen entspricht nicht den Tatsachen. Die gesetzliche Zuständigkeit für den zum damaligen Zeitpunkt als Gefährder (der Priorität 1 a) kategorisierten Amri lag prioritär auf Bundesebene. Darüber hinaus sind Bund und Länder „[…] verpflichtet, in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zusammenzuarbeiten (§ 1 II BVerfSchG[1]). Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz war über die Vorgänge um Amri und dessen Umfeld informiert.
[1] Bundesverfassungsschutzgesetz: http://www.gesetze-im-internet.de/bverfschg/__1.html