Korrespondenz mit dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport

Verfasst am 24. Juni 2018, gesendet am 25. Juni 2018 an den Niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil:

Sicherheitsarchitektur in Deutschland – Wachsendes Demokratiedefizit in der Bundesrepublik

Sehr geehrter Herr Weil,

am 19. Dezember 2016 wurde auf dem Berliner Breitscheidplatz ein Terroranschlag verübt dessen Hintergründe und Zusammenhänge bis heute nicht aufgeklärt werden konnten. Der Terroranschlag richtete sich gleichermaßen gegen die Zivilbevölkerung und gegen die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dem Anschlag fielen zwölf Menschen zum Opfer, über 70 Personen wurden dabei verletzt. Da der Terrorist den Behörden bereits mehrere Monate vor dem Anschlag bekannt gewesen war, direkten Kontakt zu sicherheitsbehördlichen Vertretern hatte und wiederholt im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum thematisiert worden war, wurden zur Klärung dieser Sachverhalte ein Sonderermittler des Berliner Senats, zwei Untersuchungsausschüsse auf Länderebene und ein Untersuchungsausschuss auf Bundesebene eingesetzt.

Dennoch konnte die Rolle und Verantwortung involvierter Sicherheitsbehörden in ihrer Gesamtheit aufgrund systematischer Informationsvorenthaltungen und widersprüchlicher Angaben seitens der Behörden bislang nicht geklärt werden. Denn sowohl an den Untersuchungen beteiligte Vertreter des Öffentlichen Dienstes als auch die Medien werden in ihrer Funktion systematisch eingeschränkt. So konnte auch eine Vorsätzlichkeit im Handeln der beteiligten Sicherheitsbehörden aufgrund der begrenzten Möglichkeiten externer Ermittlungsinstanzen bislang weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden. Zwischenerkenntnisse der Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass sich der Terroranschlag nicht nur vor dem Hintergrund eines Unterlassens behördlichen Handelns ereignen konnte. Tatsächlich waren es aktive sicherheitsbehördliche Eingriffe in entsprechende Abläufe, die den Terroranschlag in Berlin ermöglicht haben. So wurden im Zusammenhang mit dem auf dem Breitscheidplatz verübten Terroranschlag folgende Sachverhalte deutlich:

  • Mehrmonatige Observation des Attentäters: Amri wurde vor Ausübung des Anschlags über mehrere Monate vom Bundesamt für Verfassungsschutz observiert. Wann die Observationsmaßnahmen tatsächlich beendet wurden kann durch externe Kontrollinstanzen nicht objektiv beurteilt werden.
  • Wiederholter Kontakt zu sicherheitsbehördlichen Vertretern: Zeugenaussagen zufolge hatte Amri widerholt Kontakt zu Vertretern von Sicherheitsbehörden. Die Kontaktaufnahme zu Amri erfolgte zudem auch offen in Form einer sogenannten „Gefährderansprache“ (zu diesem Sachverhalt wurden weiterführende Auskünfte verweigert). Verschiedenen Quellen zufolge hatte ein V-Mann Amri außerdem von NRW nach Berlin gefahren.
  • Vorsätzliche Verhinderung einer Ausreise des Terroristen: Der bereits mehrere Monate vor Verübung des Terroranschlages observierte Gefährder A. Amri wurde durch sicherheitsbehördliches Eingreifen neun Wochen vor dem Terroranschlag vorsätzlich an einer Ausreise aus Deutschland gehindert. Sicherheitsbehördlichen Angaben zufolge geschah dies unter Berufung auf 89a StGB:
  • Da auf dieser juristischen Grundlage auf den Gefährder zugegriffen worden war (wobei Amri behördlichen Angaben zufolge durch diese Maßnahme ersichtlich wurde, dass er observiert oder „getrackt“ wurde), bleibt fraglich, warum in diesem Zusammenhang keine Strafanzeige erfolgt ist.
  • Die Absicht einer Ausreise nach Tunesien habe Zeugenaussagen zufolge „auf der Hand gelegen“. Die Möglichkeit einer „Ausreise in den Nahen Osten“ mit Zielen wie Syrien sei unwahrscheinlich gewesen.

Diese Informationen sind relevant da sie der juristischen Grundlage der Verhinderung einer Ausreise des Terrorverdächtigen durch die sicherheitsbehördliche Staatsgewalt im Sinne von § 89a StGB widersprechen. Durch diese auf Bundesebene koordinierte Maßnahme wurde eine Gefährdung deutscher Bürger und des deutschen Staates herbeigeführt (zumal zu diesem Zeitpunkt bereits ein Bewusstsein für die im Nachhinein angeführte Ressourcenknappheit im behördlichen Rahmen der Antiterrorbekämpfung bestanden haben muss).

  • Nichtnutzung rechtlicher Möglichkeiten: eine Festnahme des „Gefährders“ hätte auf der Grundlage verschiedener Straftaten Amris kurzfristig umgesetzt werden können. Erkenntnissen des Sonderermittlers zufolge waren Akten mit entsprechenden Beweisen im Nachhinein vernichtet worden.
  • Verzögerung der Fahndungseinleitung: die bei Terrorlagen vorgesehenen „Fahndungssofortmaßnahmen“ wurden mit mehrstündiger Verspätung eingeleitet. Im Zeitraum mehrerer Stunden wurden weder die Umgebung des Anschlagortes noch mögliche Fluchtwege des zu Fuß geflohenen Täters kontrolliert. Eine Festnahme des Terroristen hätte die Untersuchungen erleichtert und zu deren zielorientierter Umsetzung beitragen können.

Als unmittelbare Konsequenz auf den Terroranschlag wurden politische Maßnahmen umgesetzt deren Inhalt vor einem sich immer deutlicher abbildenden Mitverschulden involvierter Sicherheitsbehörden grundsätzlich verfehlt erscheint:

  • Kompetenzerweiterungen: Als erste politische Konsequenz des Berliner Terroranschlages sind Kompetenzerweiterungen deutscher Nachrichtendienste und anderer Sicherheitsbehörden erfolgt.
  • Substantielle Aufstufung finanzieller Ressourcen: Involvierten Sicherheitsbehörden wurden auf der Grundlage der „personellen Engpässe“ aufgrund derer man den Terroranschlag nicht habe verhindern können im Schnellverfahren zusätzliche und den situationsbedingten Anforderungen entsprechend außergewöhnlich hohe finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt (allein das Budget des Bundesamtes für Verfassungsschutz wurde im Nachhinein um ein Drittel erhöht).
  • Unverhältnismäßig begrenzte Kontrollinstanzen: Die intensivierte Lage der inneren Sicherheit, deren objektive Beurteilung durch die Öffentlichkeit aufgrund der behördlich kontrollierten Informationsbereitstellung grundsätzlich eingeschränkt und in wesentlichen Abschnitten gar nicht mehr erfolgen kann, dient als Rechtfertigungsgrundlage für Maßnahmen des intensivierten Staatsschutzes und mangelnder Transparenz bei der Untersuchung schwerwiegender Missstände im Behördenbereich. Auf der argumentativen Grundlage den Anforderungen einer sich neu formatierenden Sicherheitslage entsprechen zu müssen erfahren auch sicherheitsbehördliche Kontrollinstanzen substantielle Einschränkungen in ihrer Funktionsweise.

So wurden im Verlauf der zur Aufklärung der Verantwortlichkeiten des Berliner Terroranschlags eingesetzten Untersuchungen folgende Mängel deutlich:

  • Systematische Informationsvorenthaltungen: zu den Untersuchungsausschüssen geladene Zeugen verweigern regelmäßig die Aussage. Auch Akteneinsichten durch Mitglieder der Untersuchungsausschüsse werden regelmäßig verweigert. Gegen den Sonderermittler Bruno Jost wurde während der Ausführung seines Untersuchungsauftrags eine Auskunftssperre verhängt.
  • Widersprüchliche und falsche Angaben von Zeugen: Zeugen aus dem sicherheitsbehördlichen Umfeld haben widerholt widersprüchliche Angaben und Falschaussagen gemacht (ohne dass entsprechende Sachverhalte weiterverfolgt oder hinterfragt wurden).
  • Mangelnde oder verfehlte Schwerpunkte: Durch den Fokus der Untersuchungen auf die Landeskriminalämter entsteht der Eindruck, dass einzelne Mitarbeiter der Polizei die hauptsächliche Verantwortung in diesen Zusammenhängen tragen. Fakt ist, dass der „Fall Amri“ im Zuständigkeitsbereich der Bundesbehörden lag und entsprechend bearbeitet wurde. Eine Eingrenzung der Verantwortung auf Landesbehörden ist grundlegend irreführend. Auch das Bild isoliert handelnder Landeskriminalämter und Dezernate ist prinzipiell unzutreffend. Zeugenaussagen zufolge war ein effizienter Informationsfluss zwischen behördlichen Abteilungen durch Zugriffsmöglichkeiten auf gemeinsame Datenbestände zu jedem Zeitpunkt gewährleistet. Die zentrale Koordination der Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern obliegt dem Bundeskriminalamt.

Im Verlauf der Untersuchungen wurde deutlich, dass eine Strafverfolgung in sicherheitsbehördlichen Bereichen durch die systematische Unterbindung einer kohärenten Beweiserhebung nicht möglich ist. Aufgrund verschiedener Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Entwicklung des öffentlichen Lebens der mit dem inländischen Staatsschutz beauftragten Behörden stellt die daraus resultierende strafrechtliche Immunität dieser Behörden und deren Vertreter ein besonderes Risiko für die Stabilität und zukünftige Entwicklung innenpolitischer Sachverhalte dar. Das Phänomen Staatsterrorismus ist in der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht in solchem Ausmaß in Erscheinung getreten. Ob dem Terroranschlag vom 19. Dezember 2016 ein entsprechender Sachverhalt zugrundeliegt, muss effektiv geklärt werden. Behördliche Missstände und auch eine politische Einflussnahme von Behördenvertretern auf politische Mandatsträger können in diesen Zusammenhängen nicht ausgeschlossen werden.

Aufgrund der hohen Eingriffsrechte und den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten auf personenbezogene Daten zuzugreifen und dem hohen Maß an Geheimhaltung aufgrund dessen die konkrete Umsetzung entsprechender Maßnahmen weder kontrolliert noch abgeschätzt werden kann, besteht hier ein sich intensivierendes institutionelles Demokratiedefizit. Es ergeben sich Möglichkeiten einer nicht legitimierten und zentralisierten Einflussnahme auf das politische Geschehen die dem Anschein nach bereits genutzt werden.

In diesen Zusammenhängen sind schon jetzt eine Einschränkung der freiheitlich demokratischen Grundordnung und deren Möglichkeiten sich selbst zu schützen zu erkennen. Die dem Migrationszuwachs oft zugeschriebenen, extremistischen Einflüsse und die damit „deutlich veränderte Sicherheitslage der Bundesrepublik“ (BMI) bieten eine zusätzliche argumentative Grundlage die einen solchen politischen Kompromiss voraussetzen. Aufgrund der vom BMI wiederholt angeführten Situation in der daraus resultierenden Lage der Inneren Sicherheit wird die dem Staatsschutz übertragene Verantwortung progressiv erweitert. Dementsprechend sollten auch die Kontrollinstanzen der mit dem Staatsschutz beauftragten Sicherheitsbehörden erweitert werden.

Dem Interesse eines demokratisch ausgerichteten Staates kann nicht in einem sich ausbreitenden Demokratiedefizit in Form seiner Sicherheitsbehörden Ausdruck verliehen werden. Gegenteilige Tendenzen richten sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik und gegen deren Verfassung und deren Bürger.

Mit freundlichen Grüßen
Sarah Körfer

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Antwortschreiben des Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport:

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Antwortschreiben an das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport (gesendet am 8. August 2018):

Mein Schreiben: Sicherheitsarchitektur in Deutschland –Wachsendes Demokratiedefizit in der Bundesrepublik

Ihr Zeichen: 02011/ 2-2018

Sehr geehrter Herr Krokowski,

haben Sie Dank für Ihr Antwortschreiben. Die Einsetzung der Untersuchungsausschüsse sowohl auf Länderebene als auch auf Bundesebene wurde in meinem Anschreiben vom 25.06.2018 bereits erwähnt. Zwei der drei in diesen Zusammenhängen eingesetzten Untersuchungsausschüsse wohne ich regelmäßig bei (einschließlich den Sitzungen des von Ihnen erwähnten, vom Deutschen Bundestag eingesetzten Untersuchungsausschusses Terroranschlag „Breitscheidplatz“). Darüber hinaus stehe ich in Kontakt mit Mitgliedern und Mitarbeitern beider Untersuchungsausschüsse.

In meinem Anschreiben wurden konkrete Einschränkungen der Untersuchungsausschüsse beschrieben und hinterfragt. Es handelte sich dementsprechend nicht um eine Bemängelung ausbleibender Maßnahmen sondern um eine Hinterfragung der Ausrichtung und Effizienz bislang eingesetzter Untersuchungsprozesse.

Der auf Bundesebene eingesetzte Untersuchungsausschuss wird von den aufgeführten substantiellen Einschränkungen in seiner Funktionsweise nicht ausgenommen. Die Steuerung kohärenter Untersuchungen und die Zusammenführung verlässlicher Erkenntnisse sind auf dieser Grundlage nicht möglich.

In Ihrem Antwortschreiben erwähnen Sie die Sachverständigen-Anhörung des 1. Untersuchungsausschusses vom 17. Mai 2018 in deren Verlauf eine erweiterte Zentralisierung verfassungsschutzrelevanter Kompetenzen auf Bundesebene debattiert wurde. Allerdings war es keine Ermangelung an gesetzlichen Befugnissen auf welche das Versagen verantwortlicher Sicherheitsbehörden zurückgeführt werden kann: die Verpflichtung zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern ist in § 1 Abs. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes definiert. Weiterhin soll das Bundesamt für Verfassungsschutz die VS-Befassung zentral koordinieren wenn mehr als zwei Bundesländer betroffen sind (dieser Sachverhalt war im Fall AMRI gegeben).

Im Bundesverfassungsschutzgesetz wird ebenso definiert dass „Für die Zusammenarbeit des Bundes mit den Ländern […] der Bund ein Bundesamt für Verfassungsschutz als Bundesbehörde unterhält.“ (§ 2 Abs. 1). Darüber hinaus war das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht nur befugt sondern gemäß § 5 Abs. 2 BVerfSchG gesetzlich dazu verpflichtet alle Erkenntnisse in diesen Zusammenhägen zentral auszuwerten und zu koordinieren. Dieser Verantwortung ist das BfV allerdings aus bislang ungeklärten Gründen nicht nachgekommen.

Selbstverständlich gehe ich davon aus, dass politische Entwicklungen und Sachverhalte auf Bundesebene auch die Ministerien der Länder betreffen. Der Hinweis auf die Debatte zur föderalen Sicherheitsarchitektur im Bundestag war unvollständig und kann als Anhaltspunkt nur in seinem Kontext bewertet werden. In diesen Zusammenhängen (nämlich der der gesetzlichen Zuständigkeiten) stellt der Hinweis auf die föderale Sicherheitsarchitektur allerdings eine zusätzliche Argumentationsgrundlage für die Hinterfragung der bestehenden Ausrichtung der Untersuchungsausschüsse und deren Zielsetzung dar

(Ihr Antwortschreiben wird mit „gez. Krokowski, KD“ abgeschlossen. Bei dem Antwortschreiben fehlt jedoch die entsprechende Unterschrift.)

Mit freundlichen Grüßen
Sarah Körfer

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