Am 25. Januar fand im Berliner Abgeordnetenhaus die erste Sitzung des Untersuchungsausschusses „Terroranschlag Breitscheidplatz“ im Jahr 2019 statt. Als ich den Sitzungssaal betrat, sprach der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Stephan Lenz gerade von „schweren Grundrechtsverletzungen“ im Zusammenhang mit den um Amri gelaufenen Ermittlungsarbeiten. Diese Maßnahmen, so der Tenor, hätten gerechtfertigt werden müssen. Denn Anhaltspunkte, die den Verdacht einer Bedrohung bestätigt oder die Absicht der Zielperson, eine „schwere staatsgefährdende Gewalttat“ vorzubereiten hätten erkennen lassen, habe es über den acht-monatigen Observationszeitraum keine gegeben.
Trotz des fatalen Attentats, das der 23-jährige Tunesier noch im selben Jahr verüben würde, sei es demzufolge im Nachhinein strittig, ob es überhaupt ausreichende Anhaltspunkte gegeben habe, die Observationsmaßnahmen im „Fall Amri“ während des Untersuchungszeitraums im Jahr 2016 aufrechtzuerhalten.
Zwischen 11:30 und 11:36 Uhr sagt die für diese Sitzung geladene Zeugin, die während des Untersuchungszeitraums im Landeskriminalamt Berlin tätig und mit dem „Fall Amri“ beschäftigt gewesen war, aus, dass eine Fortführung der Observationsmaßnahmen dem Oberstaatsanwalt zufolge „schwierig“ gewesen sei, da den Behörden nicht genügend Hinweise für die Vorbereitung einer „schweren staatsgefährdenden Straftat“ vorgelegen hätten. Dass eine Fortführung der Observationsmaßnahmen rechtlich nicht umsetzbar gewesen wäre, behauptet die Zeugin allerdings nicht.
Aber auch ohne eine entsprechende Behauptung steht die Aussage der Zeugin im Wiederspruch zu früheren Zeugenaussagen denen zufolge es „keine Engpässe“ bei den richterlichen Genehmigungen der Observationsmaßnahmen gegeben hatte. Weiterhin war A. Amri anderen Zeugenaussagen zufolge über einen erheblichen Zeitraum als Gefährder höchster Priorisierung kategorisiert worden. Aber diese inhaltlichen Wiedersprüche werden nicht hinterfragt.
So wird auch während der 23. Sitzung des Untersuchungsausschusses des Landes Berlin nach kurzer Zeit die Absicht deutlich, die im Vorfeld erfolgten sicherheitsbehördlichen Handlungen auf die unterste Ebene der bundessicherheitsbehördlichen Hierarchie einzugrenzen: der Fall Amri sei auf unterster Behördenebene behandelt worden und bis zur Verübung des Anschlags auch auf dieser Ebene verblieben. Diese Version, die Amri zu einem selbst strafrechtlich kaum relevanten Fall zurechtstutzt, ist nicht neu aber im Kontext bislang gewonnener Erkenntnisse eben auch nicht plausibel. Denn tatsächlich war Amri während dreizehn* Sitzungen des Gemeinsamen Terrorismus Abwehrzentrum thematisiert und als Gefährder der Kategorie 1 A eingestuft worden. Eine grundsätzliche Revision dieser Kategorisierung innerhalb einer begrenzten Zeitspanne ist äußerst unwahrscheinlich. Aber es ist das Festhalten an dem Eindruck eines für den Staatsschutz nicht relevanten Falls, der eine über Monate andauernde Passivität der mit dem Staatsschutz beauftragten Ämter glaubhaft machen soll.
Der vermeintlichen „Fehleinschätzung“ des durch den im Vorfeld des Anschlags überwachten Gefährders sei es außerdem zuzuschreiben, dass der Fall Amri dilettantisch und außerdem ausschließlich auf Landesebene gehandhabt worden sei. Amri habe den Eindruck erweckt, eben doch nur ein kleiner Fisch gewesen zu sein, dessen Überwachung man kleinen Fischen überlassen habe. So gibt die Zeugin, die sich selbst als „zum damaligen Zeitpunkt junge Kommissarin“ bezeichnet, an, dass sie zunächst „Augen und Ohren aufgesperrt“ hätte um mitzubekommen, „wie funktioniert das eigentlich im Staatsschutz?“
Mit den Schilderungen ermittlungsrelevanter Eindrücke eines Kleinkriminellen ließe sich auch erklären, warum die Observationsmaßnahmen wenige Monate vor Verübung des Anschlags plötzlich beendet worden waren und der spätere Attentäter von „der Bildfläche verschwinden“ konnte. Den Angaben der Zeugin zufolge hätte sich durch die Observationsmaßnahmen das Bild einer zwar gewaltbereiten, aber eben nicht unbedingt religiösen Persönlichkeit der Zielperson abgezeichnet. Und auch wenn sie über die islamistisch bedingte Gewaltbereitschaft des späteren Terroristen spricht, benutzt sie trotz ihrer ansonsten sehr umgangssprachlichen Ausdrucksweise den juristisch favorisierenden Konjunktiv: „weil er eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen könnte und weil er eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereiten könnte“ hätte man die Observationsmaßnahmen über acht Monate laufen lassen.
„Er war dann immer weniger in der Moschee…deswegen hatte ich den Eindruck, er entfernte sich immer weiter von der Religion“ gibt die Zeugin an. Diese Angabe steht im Wiederspruch zu anderen Zeugenaussagen, denen zufolge der Terrorist in der Fussilet-Moschee als Imam auftrat und deren Räumlichkeiten zeitweise sogar als Schlafstätte genutzt haben soll. Aber auch hier bleiben Fragen mit Bezug auf inhaltlich gegensätzliche Angaben aus. „Ich sag jetzt mal ganz salopp, dass andere Sachen für ihn wichtiger waren“ sagt die Zeugin aus und „dass er irgendwo in Richtung islamistischer Anschlag gehen könnte, hat keiner vermutet.“
Dennoch habe man „alles dafür getan, den späteren Attentäter aus dem Verkehr zu ziehen“. Die weiterhin offene Frage, warum man trotzdem davon abgesehen hatte, anhand verschiedener Straftaten ein Sammelverfahren gegen Amri einzuleiten, wurde während der Anhörung nicht berücksichtigt. Die Zeugin gibt an, dass diese Maßnahme in ihrer Abteilung nicht einmal erwägt worden war.
Eine weitere Maßnahme die man hätte ergreifen können, um die Öffentlichkeit vor dem Gefährder zu schützen, war die Option einer regelmäßigen Meldepflicht. Möglichkeiten, den Attentäter rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen, waren hinreichend gegeben. Aber diese schienen dem den Aussagen der Zeugin zufolge auf wenige Personen begrenzten Mitarbeiterkreis, der mit dem Fall Amri beschäftigt gewesen war, nicht bekannt gewesen zu sein; denn wie die Zeugin immer wieder betont, sei „öfters“ erwogen worden, was man hätte tun können, um ihn, Amri, von der „Straße zu kriegen“. Aber auch diese Widersprüchlichkeit in den Angaben der Zeugin werden während der 23. Sitzung des Untersuchungsausschusses nicht hinterfragt.
Später gibt die Zeugin an, dass sie „etwas Italienisch“ sprechen würde und aufgrund dieser Fertigkeit Auszüge aus der Kommunikation des Terroristen habe übersetzen können. Mehr Möglichkeiten waren dem Landeskriminalamt wohl nicht gegeben. Keine Erwähnung finden bei den Ausführungen der Zeugen allerdings die insgesamt dreizehn* Sitzungen des Gemeinsamen Terrorismus Abwehrzentrums (GTAZ) während derer der Fall Amri thematisiert worden war:
Das GTAZ ist ein Zusammenschluss von 40 Behörden aus dem Bereich der „inneren Sicherheit“ deren zentraler Aufgabenbereich in der Koordination nachrichtendienstlicher und polizeilicher Sicherheitsbehörden besteht. Das GTAZ wurde 2004 vor dem Hintergrund der internationalen Bedrohung des islamistischen Terrorismus eingerichtet und verfügt über 15 Jahre institutioneller Erfahrung, fachlich hoch spezialisierter Abteilungen deren Stand dem aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse in verschiedenen Fachbereichen entspricht, internationalen Kontakten und finanziellen Ressourcen in Milliardenhöhe.
Als ich während der Pause ein Ausschussmitglied der Union auf diesen Sachverhalt anspreche, werde ich auf die unterschiedlichen Schwerpunkte der Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Länderebene verwiesen. Tatsächlich scheint der informative Austausch zwischen den Untersuchungsausschüssen in der Hauptsache über die Leitmedien stattzufinden. Dennoch räumt der Abgeordnete ein, dass er meine Einwände während zukünftiger Sitzungen des Ausschusses berücksichtigen wird.
Danach erkundige ich mich weiter nach der Verhinderung des Ausreiseversuchs des zum damaligen Zeitpunkt als „Gefährder“ kategorisierten Terroristen. Der Abgeordnete weist auf die Sitzungen im Bundestag hin während derer dieser Sachverhalt geklärt werden soll.
Einige Zeit später kommt der Abgeordnete auf mich zu und versichert mir, dass die Ergebnisse der Untersuchungsprozesse keine Fragen offen lassen würden. Ich erkundige mich, was der Abgeordnete über den Informationsaustausch im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum wisse und wie man dort mit dem „Fall Amri“ verfahren sei. Der Abgeordnete weiß es nicht.
In den Untersuchungsausschüssen ginge es darum, „nach Vorne“ zu schauen, sich zu fragen, wie es jetzt weitergeht. Das im Vorfeld des Anschlags erfolgte Behördenhandeln im Detail aufarbeiten zu wollen, scheint vor dieser Zielsetzung in den Hintergrund zu treten. Tatsächlich gehört es zur Zielsetzung der im Fall Terroranschlag Breitscheidplatz eingesetzten Untesuchungsausschüsse, eine der Verfassung dienliche Nachhaltigkeit im sicherheitsbehördlichen Handeln zu gewährleisten.
Aber um eine entsprechende Nachhaltigkeit im Behördenhandeln sicherstellen zu können, muss das Behördenhandeln auch für externe Instanzen nachvollziehbar sein. Dafür muss zunächst das Ausmaß der im behördlichen Handeln liegenden Verantwortung festgestellt und eine Neutralität der Untersuchungsprozesse gewährleistet werden. Diese Sachverhalte auf der unbedingten Prämisse zu untersuchen, die Abläufe um den Breitscheidplatz auf behördliche Fahrlässigkeit und einen behaupteten Mangel an Erfahrung und Ressourcen im Umgang mit gewaltbereiten Islamisten zurückführen zu können und damit eine Vorsätzlichkeit im behördlichen Handeln von vorneherein auszuschließen, würde ein Aussetzen der Justiz im Bereich des sicherheitsbehördlichen Handelns bedeuten.
Die tatsächliche Erschwernis bei der Aufklärung dieses gleichermaßen politischen als auch strafrechtlich relevanten Falls, ist die Unfähigkeit externer Kontrollinstanzen die Angaben von Bundesnachrichtendiensten zu überprüfen.
*aktualisiert am 1. Februar 2019 (nachdem mein Informationsstand am Vortag während der 37. Sitzung des Untersuchungsausschusses „Terroranschlag Breitscheidplatz“ im Bundestag aktualisiert worden war: mittlerweile wurde bestätigt, dass der spätere Attentäter A. Amri während dreizehn Sitzungen des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums thematisiert worden war).
Autorin: Sarah Körfer
Veröffentlicht am 29. Januar 2019